„Wir suchen schon 16 000 Menschen“ Denisowa – über Kriegsverbrechen, über Vermisste und nach Russland Deportierte

Die Menschenrechtsbeauftragte der Obersten Rada der Ukraine, Ludmila Denisowa, erzählte Suspiliny (https://suspilne.media/), über die Anliegen, mit denen sich die Opfer an ihre Ombudsstelle wenden, darüber wie und wie viele Ukrainer von Russland gewaltsam weggebracht wurden und wo die Russen sie festhalten, über Krematorien in Mariupol und Vergewaltigungen in der Region Kiew durch das russische Militär, über Völkermord und Entführung von Waisenkindern.

Übersetzung ins Deutsche, IGFM

An nur einem Tag, am 20. April, gingen bei Ihnen 112 Anrufe ein. Was betreffen sie?

An erster Stelle – die Suche nach den Vermissten. Als nächstes wurde etwas bombardiert, zerstört. Andere Themen sind humanitäre Korridore, Hilfe. Aber die Mehrheit betrifft die Suche. Wir suchen bereits mehr als 16.000 Menschen.

Unter diesen 16.000 sind welche Personen..

Militär – zweitausend. Der Rest sind Zivilisten. Ein Viertel davon betrifft Mariupol.

Sind die Daten, die Sie über die Deportation nach Russland haben, russische Daten?

Ja, sie werden jeden Tag von General Michail Mezentsev gemeldet, der die Offensive in Mariupol anführt. Und sie werden von meiner Kollegin, der Ombudsfrau für Menschenrechte der Russischen Föderation, bestätigt. Daher sind diese Daten wahr.

Haben Sie eigene Daten?

Wie können wir unsere Daten haben? Sie transportieren auch über Grenzen hinweg, wo es keine unserer Kontrollpunkte gibt. Zuallererst ist dies die Region Rostow. Nach ihren Angaben überquerten dort mehr als 700.000 die Grenze. Dann kommt die Region Belgorod. Sie werden auch auf die Krim deportiert.

Wie viele Menschen, schätzen Sie, sind freiwillig über die Grenze gegangen?

Die Anreise mit dem eigenen Auto ist meiner Meinung nach freiwillig. Nach Angaben der Russischen Föderation gibt es 96.000 solcher Autos. Aber sie könnten auch weiter gefahren sein, die besetzten Gebiete nicht einfach durch die Ukraine verlassen haben können. Und deshalb, denke ich, haben sie die Gelegenheit genutzt, Russland in Richtung der Staaten der Europäischen Union zu verlassen. Weil meine Kollegen aus anderen Ländern Aufrufe von Bürgern aus Mariupol, Charkiw und anderen Städten der Ukraine erhalten haben, die mit ihren eigenen Autos angekommen waren.

Überqueren sie die Grenze zu Estland?

Ja, über Narva.

Haben Sie Daten darüber, wie viele sich so bewegt haben?

Nein. Es ist ja eine russische Grenze. Die, einschließlich der Migrationsdienste der Europäischen Union, haben kein Interesse daran. Sie berücksichtigen keine Ukrainer. Dies ist möglich, wenn sie sich an die Konsulate und Botschaften der Ukraine in diesem Staat wenden. Und die meisten unserer Bürger tun das nicht.

Es gibt Daten, die von der UNO gemeldet wurden – 4.800.000 sind dort gemeldet. Aber nicht alle unsere Bürger beantragen ja Asyl.

Was passiert mit den Menschen, die nach Russland gebracht wurden?

Es gibt verschiedene Daten. Erstens, wie kommen sie dorthin? Erstens werden sie wo immer möglich an allen Orten festgenommen. Wir haben auch Geschichten, dass Menschen im Keller eines ausgebombten Hauses saßen – es war Anfang März – Orks (aus Herr der Ringe, Anm ÜB) kamen und nahmen sie mit, fast immer ohne Papiere. Dann wurden sie in Filtrationslager in den besetzten Gebieten der Gebiete Donezk und Lugansk gebracht. Dort wurde den männlichen Personen die Frage gestellt: „Wie denkst Du über die „Sonderoperation“ der Russischen Föderation auf dem Territorium der Ukraine?“  Natürlich werden alle Handys überprüft. Diejenigen, die nicht die Prüfung nicht bestanden haben, sind die „Nazis“, wie die Russen sagen. Sie werden weitergeleitet. Danach verlieren sich die Kenntnisse über das weitere Schicksal dieser Menschen. Vielleicht sind sie in Lagern untergebracht. Der Rest wird in Busse verladen und in das Gebiet der Russischen Föderation transportiert.

So beispielsweise nach Taganrog. Sie schlafen dort auf dem Boden in Kindergärten, auf Sportplätzen. Eine konkrete Familie –  eine ältere Frau, 92 Jahre alt, die sich nicht mehr selbstständig bewegen konnte. Sie wurde von ihrer 67-jährigen Tochter in den Keller runtergetragen. Da waren schon vier Personen, denen das Gebäude gehörte. Und dann kamen die „Orks“ und nahmen sie mit. Es war der 5. März. Bis zum 9. März bewahrten sie sie irgendwo auf und brachten sie dann nach Taganrog. Dort waren sie bis zum 15. März. Dann wurden sie in einen Zug gesetzt und am 20. März in die Stadt Susdal in der Region Wladimir gebracht. Danach war die Kommunikation mit ihnen unterbrochen. Wo sie jetzt sind? Noch in der Region Wladimir? Wir wissen es nicht.

Wir kennen bestimmte Lager. Dank russischer Freiwilligen. Sie schrieben mir, dass sie einen solchen Ort in der Region Pensa, dem Dorf Leonidowka, entdeckt hätten. Was ist das für ein Lager? Früher lebten dort Arbeiter, die Atommüll entsorgten. 10 Häuser, 10 Gebäude, alle umzäunt und mit einem Kontrollpunkt. Und diese Freiwilligen haben gezählt – es gibt dort 400 Menschen, 147 davon sind Kinder. Die Leute sind niedergedrückt, in Winterkleidung. Sie baten um Babynahrung für sehr kleine Kinder, die im Keller geboren wurden, und dann wurden sie weggebracht. Diese Freiwilligen eröffneten ein Konto und Leute überwiesen Geld darauf – gewöhnliche Russen, die den Krieg nicht unterstützten. Ich bat sie zu fragen, wohin unsere Leute von dort aus jetzt weiter wollen. Ganz alte Leute sagten: „Wir gehen schon nirgendwo mehr hin, werden  irgendwie hier bleiben.“ Die Jüngeren wollten definitiv alle weg. Wir beschlossen, es zu versuchen. Freiwillige kauften Tickets für eine Familie nach St. Petersburg, dann nach Estland. Unsere Kontaktleute trafen sie. Sie blieben zunächst in Estland und zogen von dort weiter dann nach Stockholm. Jetzt versuchen wir, andere ebenso herauszubekommen.

Kinder sind mit ihren Eltern in Lagern. Aber sie nehmen auch Waisenkinder auf, nicht wahr?

Ja. Dies begann bereits vor Beginn dieser grauenvollen Militäroperation am 24. Februar. Mehr als 1.100 Waisen wurden aus den vorübergehend besetzten Gebieten Donezk und Luhansk weggebracht. Jetzt wissen wir, dass es mehr als zweitausend von ihnen gibt. Und nun will die Russische Föderation ein Gesetz über ein vereinfachtes Verfahren zur Adoption ukrainischer Kinder durch russische Staatsbürger verabschieden. Dies ist eine gefährliche Situation.

Gilt das als Völkermord?

Ja, das ist Völkermord am ukrainischen Volk. Denn die Identität geht verloren. Sie bringen ihnen die russische Sprache bei, sie wollen, dass sie den russischen Traditionen folgen. Keine Kinder – keine Zukunft, keine Ukrainer.

Haben Sie Daten zu sexuellen Übergriffen, über die Sie sprechen können?

Ende März begann unser Militär mit der Befreiung der Region Kiew. Es begannen Anrufe, Menschen sagten, sie seien Opfer sexueller Gewalt geworden. Gemeinsam mit UNICEF haben wir eine rund um die Uhr kostenlose psychologische Hotline eingerichtet. Vom 1. bis 14. April gab es 400 solcher Anrufe, und es geht natürlich weiter. Diese Fälle sind schrecklich. Psychologen sagen, dass sie schon schlimme Fälle häuslicher Gewalt hatten, aber was russische Soldaten mit unseren Frauen, Mädchen, Kindern, älteren Menschen und Männern gemacht haben, war hundertmal härter.

Die Geschichten, die wir veröffentlichen, sind diejenigen, für die wir die Zustimmung erhalten haben. Aber von denen, die sich bei uns gemeldet haben, gibt es immer noch keine einzige Person, die vor den Ermittlungsbehörden aussagen möchte. Denn es ist wenig Zeit vergangen. Der Projektleiter sagte mir: „Siehst du, wenn die Opfer anrufen, sind sie entweder uns gegenüber aggressiv, sagen, dass „du auch schuld an der Vergewaltigung bist.“ Oder im Gegenteil sagen sie: „Ich habe deine Zeit nicht verdient.“ Beides ist beängstigend. Und dann erinnern sie sich nur noch an den Anfang der Tragödie und das Ende. Aber der Teil darüber zu erzählen, was genau passiert ist – der benötigt  Zeit. Der Projektleiter sagt, wenn drei, fünf, sechs, manchmal acht Sitzungen vergangen sind, erst dann komme ein: „Danke, es ist mir leichter geworden.“ Das heißt, ja, wir sprechen über die von der Russischen Föderation begangenen Verbrechen. Aber die Durchführung von Ermittlungsverfahren, das ist die Arbeit des Generalstaatsanwalts, der Strafverfolgungsbehörden. Die machen das.

Kommen jetzt Meldungen bezüglich sexueller Gewalt aus den vorübergehend besetzten Gebieten?

Wo eine Verbindung wieder aufgebaut wird, da erzählen die Leute. Und wenn es keine Verbindung gibt, wie sollen sie zum Beispiel in Mariupol telefonieren?

Wir werden uns auf einiges gefasst machen müssen, nachdem diese Stadt befreit ist. Denn diese Verbrechen… Was sie jetzt tun, ist die Leichen unserer Bürger zu verbrennen, damit es später einfach keine Beweise für ihre Verbrechen gibt. Es ist auch grauenhaft.

Es gibt Beweise aus der Region Cherson, aber es gibt nicht nur sexuelle Gewalt. Im Allgemeinen gab es solche Gebiete der Russischen Föderation, die einfach …. Nun, zum Beispiel gibt es die Eingabe eines Mädchens, dessen Vater die Hände abgehackt wurden. Vor diesem Mädchen, der Tochter. Der Vater starb an seinen Wunden. Und solche Erfahrungsberichte gibt es viele.

Sexuelle Gewalt, weißt du, da brauchst du …. Was sagt der Psychologe? Es gibt zwei Eigenschaften. Erstens sind die Vergewaltiger junge Leute im Alter von 20 bis 25 Jahren. Das heißt, diejenigen, die damit aufgewachsen sind, wie Putin regiert hat, mit dieser seiner Propaganda. Das ist das erste. Und zweitens tun sie es öffentlich. Auf jeden Fall vor anderen Menschen und Gruppen. Damit andere sehen können, wie sie sich über die Vergewaltigten lustig machen.

Und sie vergewaltigen so: Sie behalten zum Beispiel eine Schwester, die keine Vergewaltigung zulassen will. Wir haben Beweise dafür, dass dies so geschehen ist, Geschwister, – die eine 25, die andere 16. Sie halten die 25-Jährige fest, sie schreit, bettelt auf ihren Knien: „Tu das nicht deiner Schwester an, tu das mir an!“ Und die anderen beiden machen mit ihrer Schwester, was ihnen einfällt. Das heißt, beide brauchen Hilfe.

Und wenn fünf Orks vor den Augen der Mutter einen 11-jährigen Jungen vergewaltigen, wie hält man das aus? Und wenn drei Orks eine 14-Jährige vergewaltigen? Dann, als Butscha befreit wurde, bringt ihre Mutter das Mädchen zum Arzt und der sagt ihr, dass es schwanger ist. Eine Abtreibung war nicht möglich und dann die Frage, wie soll die Mutter, wie das Kind da je wieder herauskommen?

Sehen Sie, sie vergewaltigen und schreien: „Siehst du? Das wird mit jeder Nazi-Hure so sein.“ Ist das nicht Völkermord? Oder wenn ein Kind nicht leben will, ein 11-jähriges Mädchen. Die Mutter und uns an und fragte, was sie tun solle. Das Mädchen fühle sich schuldig, weil es nicht auf seine Mutter gehört hatte. Die hatte ihr verboten rauszugehen in Gostomel, doch sie wollte ihr eine Freude bereiten und für sie Blumen pflücken. Und da ist er, der Vergewaltiger. Und sie erinnert sich nur an den Anfang und erinnert dann an nichts mehr, nur an den Moment als sie zu Boden geschlagen wurde. Und weint.

Konnten Sie die Informationen über das Krematorium in Mariupol bestätigen?

Wir sind nicht in Mariupol. Aber die Leute haben angerufen und gesagt: Wir sind mit 12 Leuten auf die Straße gegangen und einem strengen unbekannten Geruch nachgegangen. Und dann haben sie ein Krematorium gefilmt – wie die Vorrichtung einfährt und auf ihr Leichen gestapelt sind. Das erste Krematorium wurde, ich weiß nicht, vor zwei Wochen geliefert. Und eine Maschine, die Trümmer beseitigt. Als die Öffentlichkeit auf Butscha gerichtet war, begannen sie, Beweise für die Verbrechen zu vernichten. Sie sortierten die Trümmer und brachten die Leichen zum Geschäft „Metro“ – dort haben sie Kühlschränke. Und dann merkten sie, dass es schon so viele Leichen gab, dass ein Krematorium nicht ausreichte. Und sie haben mehrere von ihnen dorthin gebracht, ich glaube, es gibt dort 13 Krematorien. Es gibt Beweise dafür, dass wir all dies aufgezeichnet und übermittelt haben.

 

28.04.2022

Quelle: suspilne.media

Foto: suspilne.media