IN ODESSA IST ALLES MÖGLICH

Sommer 2017 – Ein Bericht

Eine Reflexion über die jüngste Geschichte in (der) Ukraine von Dr. phil. Carmen Krusch-Grün

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„Wo geht’s denn hin?“ So die typische deutsche Frage vor den großen Sommerferien. Und hier beginnt schon der erste Unterschied zwischen West- und Osteuropa. Denn in Deutschland folgt zumeist auf die Antwort  „Nach Odessa“, die von unsicherem Blick begleitete Frage „Wo ist das denn?“ Bei der Antwort „In der Ukraine, am Schwarzen Meer“ werden die Blicke noch unsicherer, denn damit wollen sich in den Gehirnwindungen keine Urlaubsparadiese verbinden lassen, im Gegenteil, da war doch was in der Ukraine und irgendwie war es nichts Gutes. Solche Gesprächsabfolgen sind im Osten Europas wohl kaum zu finden.  Hier kennt jeder Odessa, weiß jeder, dass es am Schwarzen Meer liegt und dass es wunderschöne weite Sandstrände zu bieten hat. Als die Riviera des Ostens gilt. Und man weiß genau, dass viele Zehntausende von Ukrainern und Weißrussen dort derzeit ihren Urlaub verbringen, aber auch, dass im Osten des Landes seit 3 Jahren Krieg herrscht. Und viel mehr noch, die meisten sind sehr gut informiert über die Entstehung, den Verlauf und aktuellen Stand des Krieges und der gesamten Landessituation. Denn die Situation in der Ukraine interessiert sie wirklich. Die dritte Folgefrage allerdings ist typisch für Ost- und West: „Ah Sie kommen von daher?“ Und das ist die Stelle, an der ich mir überlege, ich hätte vielleicht doch einfach gleich zu Beginn „nach Mallorca“ antworten sollen, dann hätte ich dem Frager und mir jetzt einiges erspart.

Denn nein, ich komme nicht von da, ich habe auch keinerlei Verwandte von da und ich komme auch nicht aus Ostdeutschland, sondern bin gebürtige Bayrin, aufgewachsen in Hessen, in einem winzigen Dorf 50 km nordöstlich von Frankfurt.  Ein Gebiet, das mein hiesiger Dorfnachbar und hochzufälligerweise der 1988 gewesene Erste Sekretär der deutschen Botschaft in Moskau schon damals als „Hessisch Sibirien“ bezeichnete. Insofern gibt es einen, wenn auch nicht ethnischen, Zusammenhang.

Die weißen Sandstrände Odessa sind im Sommer voller Urlauber

Warum ich als ältere alleinstehende Mutter mit meiner Tochter und deren Freundin  in Odessa Urlaub mache, das bedarf dann doch schon einer weiteren Erklärung.

Kurz gefasst, bin ich Politikwissenschaftlerin, die sich in ihrem Studium auf die Sowjetunion spezialisiert und daher noch gegen Ende der Sowjetzeiten fast ein Jahr in Moskau gelebt hat.  Dort viele gute Freunde gewonnen, von denen mich welche in ihre Datscha nach Odessa eingeladen hatten.

Doch während in Deutschland das Gespräch damit meist in einem erneuten unsicheren „Ah so, das ist ja interessant“ endet, beginnt es im Osten an dieser Stelle erst richtig. Denn die Menschen hier haben ein inneres Bedürfnis darüber zu reden, über ihre Geschichte im Wandel der ehemaligen Sowjetunion. Gerade in der Ukraine, in der die Wunden der jüngsten Geschichte noch immer offen liegen. Und da ich durch meine Freunde seit 30 Jahren mit diesen Menschen verbunden bin, geht es mir ähnlich.

Deshalb jetzt meine längere Fassung, doch immerhin mit dem beschwerlichen Versuch 30 dienstliche und private Jahre in meinen Urlaubsbericht zu packen.

Seit meiner Rückkehr damals 1989 aus Moskau, also seit nunmehr knapp 30 Jahren, arbeite ich bei der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte/IGFM, arbeite mit eigenständigen IGFM/Sektionen aus fast allen Nachfolgestaaten dieses Gebiets, das fast ein Fünftel der gesamten Erdoberfläche umfasst, zusammen.

Damals, nach dem Zerfall des Sowjetsystems, herrschte eine Art Freudentaumel unter den Abermillionen von „sanften“ Revolutionären.

Wir Deutschen können das eigentlich am Besten verstehen oder wem sind nicht die Tränen gekullert bei all den Bildern, die uns 1989 mit der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland  geliefert wurden? Und obwohl es schon fast 3 Jahrzehnte her ist, wer, der das damals bewusst miterlebt hat, könnte sich heute nicht daran mehr erinnern?

Aber wer hätte auch vergessen, wie schwierig das Aufräumen nach der großen Party war? Und wenn man jetzt die Aufräumbedingungen von Ost- und Westdeutschland, denen des größten Landes der Welt gegenüberstellt, ein Gebiet über 200 mal so groß wie die damalige DDR, neugeboren, ohne die zuverlässige Hilfe eines großen Bruders oder einer großen Schwester, dann vielleicht erhält man eine winzige Vorstellung von dem Durcheinander, das heute dort herrscht.

Nehmen wir also mein diesjähriges Urlaubsland, die Ukraine, als Beispiel. Das zweitgrößte Land in Europa, in fast direkter Nachbarschaft zu uns. Gleich hinter Polen. Eine, wahrscheinlich eher zwei Tagesfahrten mit dem Auto. Die Ukrainer in dieser Nähe zu Europa haben damals gehofft, von uns mit offenen Armen empfangen zu werden.

Anstatt dessen wurden sie zum Spielball geopolitischer Machtinteressen. Denn mit dem Zerfall der Sowjetunion, des Eisernen Vorhangs zwischen Ost und West, lösten sich nicht gleichzeitig die über 70 Jahre etablierten ökonomischen und militärischen Bündnisse oder sozialen Beziehungsgeflechte. Auch hatte der Eiserne Vorhang nicht nur den Osten vom Westen weggesperrt, sondern natürlich auch den Westen vom Osten. Jeder Deutsche kann wohl irgendwie problemlos 5 US-Staaten aus dem Ärmel schütteln. Kann 5 US Präsidenten beim Namen oder Städte nennen. Eine der leichtesten Übungen für uns. Wie sähe das Ergebnis aus, bei der gleichen Frage zu der ehemaligen Sowjetunion, unserem riesigen Nachbarn auf demselben Kontinent? Welches Land würde nach der Nennung von Russland folgen, welcher Präsident nach Putin, welche Stadt nach Moskau?

Und sprachlich, wer könnte auch nur einen dieser 300 Millionen Menschen in dessen Muttersprache begrüßen?

Die Ukraine wurde also nicht umgehend von Westeuropa mit offenen Armen empfangen. Russland, selbst nach dem Zerfall der Sowjetunion, ohne deren 14 Nachfolgestaaten, noch immer das größte Land der Welt, erwartete Loyalität und Solidarität von „seinem strategisch wichtigen Außenposten“ an der westlichen Front. Und der Westen wollte Russland vorerst besser nicht damit kompromittieren.

 Die Ukraine konnte sich abstrampeln wie sie wollte, das Europa-Leckerli wurde ihr vorerst an den Schwanz gebunden. Und was hat es in dieser Narrenposition in den letzen drei Jahrzehnten alles mitmachen müssen?

Wie fast alle Nachfolgestaaten wurde es beraubt von seinen eigenen Landsleuten, die sich in dem planlosen Übergang von Staatseigentum in Privateigentum in unvorstellbaren Ausmaßen bereichert hatten. Den Oligarchen. Millionenschwer haben sie ihre Spinnennetze gebaut und tragende Positionen erkauft, die sie nicht zum Nutzen für Land und Bevölkerung einsetzten, sondern nur um weitere Millionen in ihre Taschen zu wirtschaften.

Eine Handvoll ukrainischer Präsidenten, die sie zwar gewählt hatten, die sich aber immer wieder nur als Marionetten des Oligarchennetzes herausstellten und die es nicht im Ansatz geschafft haben, in der „Kornkammer Europas“ Brot für ihr Volk zu backen.

Im Osten des Landes, der nicht nur geographisch direkt mit Russland verbunden ist, sondern auch historisch, ökonomisch und ethnisch, blieb diese vielschichtige Nähe weiter bestehen.

Im Westen, der geographisch, so versteht sich, Europa zugewandten Seite des Landes, war die Suche nach einer neuen Identität größer. Und man fand die Nähe auf dem Schoß der Mutter Ukraine. Russland wurde hier mehr und mehr als direkter Nachfolger der Sowjetmacht, als bedrohlicher Okkupator empfunden. Zumal dieses kleine Gebiet, im Gegensatz zu dem Rest der damaligen Sowjetunion, erst nach dem Zweiten Weltkrieg, also erst eine Generation später, durch den Hitler-Stalin-Pakt, unter erbitterter Gegenwehr der dortigen ukrainischen Freiheitskämpfer, von den Sowjets eingenommen wurde.

Währenddessen ein Russland, das unter fast zwei Putin-Jahrzehnten sich mehr und mehr selbst als Nachfolger der Sowjetgroßmacht identifiziert, das unter ihm wieder beängstigende autokratische Strukturen festigt. Wie kein anderer nutzt er gebildet, intelligent und geschickt die Historie, Größe, den Ressourcenreichtum des Riesenreiches, den Stolz, das Werteverständnis und die Vaterlandsliebe des russischen Volkes, um seine Autokratie zu festigen.

Doch dann, kaum mehr zu glauben, nach fast 30 Jahren, sollte es nun doch endlich soweit sein. Das Tor nach Europa tatsächlich geöffnet werden. Ein viele Jahre gezogenes tausend Seiten umfassendes Assoziierungsabkommen mit der Ukraine war unterschriftenreif. Und ganz abgesehen davon, dass es wirtschaftlich gesehen wirklich mehr als problematisch für die Ukraine war, war die relativ plötzliche Unterschriftsverweigerung des damaligen und daraufhin gestürzten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, dann einfach vor dem Volk nicht mehr tragbar.

Das ukrainische Volk ging auf die Straße, Zentrum des monatelangen Protests wurde der Hauptplatz der Kiewer Hauptstadt, der „Maidan“.

Auf diesem Maidan entzündeten sich nun die Bipole eines Jahrhunderts. Der Maidan stand in Flammen und der dicke schwarze Rauch überdeckte die Kiewer Rus. Obgleich noch im Oktober des darauffolgenden Jahres Präsidentschaftswahlen angestanden hätten, gab es jetzt keine Geduld, kein Warten mehr.

Wie die DDR-Deutschen, die damals einfach über den Zaun der deutschen Botschaft in Prag kletterten, alleine das Wissen im Gepäck, dass sie nicht mehr zurück wollten.

So kamen Abertausende auf den Maidan, alleine mit dem Wissen, dass sie diese postsowjetische Last nicht mehr tragen wollten. Keine Oligarchen mehr, keinen Janukowitsch mehr, keinen Putin mehr.

Wie würde sich das entwickeln, wie würde es enden, wie würde es weitergehen? Bilder aus dem Sommer 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens traten vor Augen. Würde auf sie geschossen werden?

Die Welt konnte jetzt nicht mehr wegschauen, die Menge und Entschlossenheit der protestierenden Menschen machte deutlich, dass die Ukraine an einem entscheidenden historischen Wendepunkt angelangt war. Und viel mehr noch, sie war eine menschliche Verkörperung der Kulmination des in  postsowjetischen Jahren zurückgedrängten kalten Krieges zwischen Ost und West. Immanent forderte sie hier und jetzt die westliche Welt auf,  ohne weiteres Wenn und Aber, Position zu beziehen.

Und endlich reagierte der Westen auch, stellte sich ohne Wenn und Aber auf die Seite der „Maidaner“.  Aber auch Abermillionen Menschen im Osten, die Kämpfer und Kinder der damaligen sanften Revolution, verfolgten die Entwicklung auf dem Maidan mit gebannter Hoffnung.

Dennoch konnte man die „Maidaner“ nicht einfach in einen Sonderzug nach Westen setzen, so wie die DDR-Deutschen damals von Prag aus. Oder für sie die Zäune aufmachen wie in Ungarn. Auf der anderen Seite konnte man in der Zeit des 21. Jhds., des nicht mehr offiziellen Kalten Krieges, auch nicht so einfach eine militärische Niederschlagung à la Prager Frühling oder Ungarischem Volksaufstand wiederholen.

Eine schnelle Lösung war nicht in Sicht und es verging Zeit, sehr viel Zeit, in der hinter dem Vorhang vielerlei Machtinteressen eifrig  ihre Fäden spannen und zogen. Zeit, in der sich Politiker, Wissenschaftler, Freunde und gar Verwandte  teils auf Stasi Niveau in Freund-Feind Ebenen bewegten. Leiseste Zweifel oder Kritik am Maidan, wurde in der westlichen Welt gleichgesetzt mit prorussisch, böse, feindlich und wahrscheinlich gar von Putin persönlich bezahlt. Im Osten wurde man ohne Zweifel oder Kritik an der Maidan-Bewegung zum ignoranten Sympathisanten für Faschisten.

Die Rolle von ultranationalistischen, faschistoiden Gruppierungen während des Maidan und anschließenden Bürgerkrieges in der Ukraine, wurde im Westen entweder gar nicht gesehen oder marginalisiert. Und im Grunde hat sich dies für die Ukraine auch heute so verifiziert. Die extremistischen, gewaltbereiten Gruppen wurden in der Hitze des Maidans als Frontkämpfer laufen gelassen, gerieten teilweise außer Kontrolle, konnten aber in der ukrainischen Gesamtbevölkerung keinen Fuß fassen und sind heute wieder am Rande der Gesellschaft angelangt.

Im Osten wurde ihre Rolle hoch gespielt. Hier nur ein Beispiel von vielen: Die Person Oleg Tjagnibok, Parteiführer von „Swoboda“ mit der die Partei „Udar“ von Vitali Klitschko und die „Vaterlandspartei“ von Julia Timoschenko schon im Dezember den „Maidan-Rat“, ein Bündnis gegen die Regierung Janukowitschs, geschlossen hatten.

Ein prägnantes Zitat aus einer seiner Reden (hier aus 2004): „Ihr seid ukrainische Nationalisten, ukrainische Patrioten! Ihr müsst die Helden werden, die heute die Erde unter unseren Füßen verteidigen! Sie hängten sich Gewehre um den Hals und gingen in die Wälder. Sie kämpften gegen Russen, gegen die Deutschen, gegen Judenschweine und sonstiges Gesindel, welches uns den ukrainischen Staat wegnehmen wollte! Man muss endlich die Ukraine den Ukrainern geben!“

„Sie“, damit sind die o.g. ukrainischen Freiheitskämpfer des Zweiten Weltkrieges, unter deren (international aufgrund von Antisemitismus und Gewaltverherrlichung umstrittenen) Anführer, Stepan Bandera, gemeint. Tjagnibok war ein permanenter Akteur auf der großen Maidan-Bühne, ein Mitstreiter Vitali Klitschkos und so kamen viele westliche Politiker bei ihren Unterstützungsbesuchen der Maidaner in Kiew auch dazu, Herrn Tjagnibok freundlich die Hand zu schütteln, sehr wahrscheinlich ohne zu wissen, was dieser Mann so alles von sich gibt.

Solche unsensiblen Missverständnisse konnte es im Osten nicht geben, denn hier kannte und verstand man seine rassistischen Reden schon lange. Und nicht nur Russen, die er stetig mit solchen Beleidigungen und Drohungen versah, sondern auch Ukrainer im Osten und Südosten wie auch viele Menschen in der Zentralukraine, die noch ein Jahr zuvor mehrheitlich die Partei des Regierungspräsidenten gewählt hatten, stießen solche radikalen Töne ab. Man fühlte sich gar persönlich betroffen, abgelehnt und ausgestoßen.

Putin hatte hier leichtes Spiel diese antirussischen Auswüchse wie auch europäische Unsensibilitäten seinem Volk in konzentrierter Form ins Gesicht zu schleudern. Es gab genug Futter. Auch im Westen bekannte, hohe ukrainische Politiker und Sympathieträger wie Julia Timoschenko oder Arsenij Jazenjuk waren nicht zimperlich mit Äußerungen, die sich gegen die Russen allgemein und die russischstämmige Bevölkerung in der Ukraine wendeten.

Heute: Ein überdimensionales Wandbild auf dem Maidan mit der Aufschrift “Freedom is our religion” (Freiheit ist unsere Religion)

So zogen sich die Tage auf dem Maidan zu nervenzerreibenden, wogenden, zerstörerischen, elf ewigen Wochen bis dann am 18. Februar 2014 doch die Schüsse fielen und achtzig Menschen auf dem Opfertisch der Freiheit ihr Blut ließen. Mit ihrem Blut wurde Präsident Janukowitsch zu Fall gebracht, er flüchtete noch am selben Abend.

Mit ihrem Blut begann weiteres Blut zu fließen, kleinere und größere Kampfhandlungen im ganzen Land, die sich mit intriganter russischer Unterstützung im Osten des Landes, direkt an der Grenze zu Russland, um die Großstädte Lugansk und Donezk, manifestierten und die bis heute täglich neue Opfer fordern.

Zwar floss kein Blut bei der russischen Besetzung der Krim, doch so russisch wie die Krim sein mag, sie sich im Eilverfahren wieder einzuverleiben, war wie einem schwerkranken Patienten heimlich den Arm zu amputieren.

Unzählige menschliche Gräueltaten wie Splitterbomben, Inbrandsetzungen, Erschießungen, Entführungen, Folter, folgten und das nicht alleine auf der Seite der ostukrainischen Kämpfer und der russischen Freischärler.

Auch in den zahlreichen von Oligarchen unterhaltenen westukrainischen „Privatregimenten“, war man nicht zimperlich. Berüchtigt dafür das offen neonazistische Asow-Batallion, dessen Mitbegründer und Vorsitzender der „Radikalen Partei“, Oleh Laschko, sich sogar beim Foltern eines selbsternannten Feindes filmen ließ und der heute mit über 7 % der Wählerstimmen, Abgeordneter des ukrainischen Parlamentes ist.

Genannt werden muss auch das Horror-Szenario vom 2. Mai 2014 in Odessa, wo ein Gewerkschaftsgebäude, in das sich pro-russische Demonstranten flüchteten, in Flammen gesetzt wurde, in dessen Folge 50 Menschen zu Tode kamen, darunter 32 bei lebendigem Leibe verbrannten.

Fragwürdige Gesetzesregelungen werden innerhalb der „Anti-Terror-Operation“ wie der Krieg von der Ukraine offiziell bezeichnet wird, als Notwendigkeit zur Sicherheit und Verteidigung der Ukraine, deklariert.

Kriegsdienstverweigerer dürfen jetzt inhaftiert oder auf Deserteure im Kampfeinsatz geschossen werden. Russische Medien, Filme oder Künstler wurden verboten. Die öffentlich zugängliche Webseite „Mirotworez“ (Friedensstifter) mit persönlichen Daten und Bildern von um die 30 000 Personen, die vom Betreiber als „Feinde“ eingestuft werden. Darunter Tausende Journalisten und zahlreiche Künstler. Dies hat nicht selten schlimme Folgen, so wurden schon mindestens 2 der Aufgelisteten am helllichten Tage auf offener Straße erschossen und auf der Webseite als „liquidiert“ gekennzeichnet.

Im östlichen Kriegsgebiet, das mit der größeren Umgebung ca. 10 % der Ukraine umfasst, sind seither zehntausend Menschenleben erloschen. 50 000 wurden verwundet und zwei Millionen mussten aus ihrer Heimat fliehen. Ein großer Teil dort ist zerbombt, zerstört, mittellos, traumatisiert.

Insgesamt also keine „sanfte Revolution“, sondern eine „Revolution der Würde“, wie sie in (der) Ukraine und im Westen bezeichnet wird?

War es das wert, sich vom russischen Joch zu befreien und die Schranken nach Europa zu öffnen?

Mit all diesen Erinnerungen im Gepäck stehe ich in Odessa am Flughafen. Das letzte Mal, dass ich in Odessa war, liegt fast 30 Jahre zurück. Damals in der Sowjetunion war mir als Ausländerin aus dem Westen eigentlich nicht erlaubt, Moskau zu verlassen. Doch bereiste ich mit meinen Freunden aus dem russischen Underground, der damaligen Künstler-Szene, einige verbotene Städte.

So auch Odessa. Und auch dort lernte ich Freunde aus der Künstler-Szene kennen, junge, tabubrechende Revoluzzer, die ihre eigene Kultur und Zivilcourage gegenüber dem restriktiven Sowjetsystem entwickelten. So etwas wie flower-power auf sowjetisch.

Diesmal stand nicht, wie früher üblich, die ganze Gruppe wartend am Bahnhof, sondern wurde ich mit einem neuen Jeep direkt am Flughafen abgeholt.

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Anstecker „In Odessa kann man alles machen“

Hallo und Willkommen in Odessa, in Odessa ist jetzt alles möglich!“, begrüßt mich Niko freudestrahlend. Meine Freunde waren in Moskau gut etabliert gewesen, haben sich dennoch, während der Auseinandersetzungen in ihrem Heimatland, dazu entschlossen, Moskau den Rücken zu kehren und sich auf die Seite der Ukraine zu stellen. Sind vor zwei Jahren ganz bewusst nach Odessa gezogen.

Zwar war ich in den letzten Jahren viele Male in der Ukraine, selbst einige Male auf dem Maidan, aber immer dienstlich. Jetzt würde ich eine Woche mit meinen Freunden an Strand, Sonne, Meer und Lagerfeuer verbringen

Würde vielleicht eine Antwort darauf bekommen, ob es das wert war. Niko, mein guter Freund und Seelenverwandter, hat das wohl gespürt und mich deshalb genau mit diesen Worten begrüßt. Auch während der ganzen Woche blieb dies sein Leitspruch.

Und gleich auf der Fahrt zur Datscha erklärt er mir, dass die gesamte Polizei ausgewechselt und er noch kein einziges Mal angehalten und abgezockt wurde. Dass ich einfach herfliegen konnte, ohne Visum und dass unsere Kinder sich jetzt alle auf Englisch unterhalten können.

Er wiederholt, was er mit vor einiger Zeit bei einem Treffen in Frankfurt erzählt hatte, dass er zu Anfang auch gedacht hatte, dass in der Ukraine die Faschisten auf dem Vormarsch seien. Als er dann aber seine Mutter in Odessa besuchte und auf den Straßen die Demonstrationen sah, stellte er fest, dass die proukrainischen Demonstranten aus hunderten bunter, freundlicher Menschen, vielen Eltern mit Kindern, bestanden. Während die Prorussischen sich aus dunklen Männergesichtern zusammensetzen, die seinen Kindern Angst einflössten.  Da habe er verstanden, dass das russische System ihn wieder betrogen hatte, wie damals das sowjetische.

Damals hatte er mir eine kleine Geschichte aus seiner Kindheit erzählt, die ich nie vergessen habe.

In seiner Schule stand der Besuch von amerikanischen Schülern an. Es wurde groß angekündigt, wochenlang drehte sich alles nur um die Vorbereitungen, wurde alles  auf Hochglanz gebracht. Alle waren aufgeregt und sie wurden ständig ermahnt, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Dann sei dieser Tag der Tage tatsächlich gekommen. Sie saßen alle da, geschniegelt und gestriegelt in ihren Uniformen, mit ihren roten Halstüchern, in fast militärischer Manier. Und dann seien diese amerikanischen Kinder gekommen: Locker, lässig, kaugummikauend, ohne großes Interesse, ohne Disziplin. Frei. Und er sei sich in diesem Moment so dumm und albern vorgekommen, habe sich so unpassend und eingezwängt gefühlt, in seiner geschniegelten Uniform, die amerikanischen Kinder in ihrer freien Art beneidet.

Diese Freiheit weht jetzt für ihn in der Ukraine, in Odessa. Und dieser Wind weht in die richtige Richtung, -nach Europa. Auch wenn Poroschenko kein guter Präsident sei, so könne er sich in der Ukraine nicht so festsetzen, sich keinen güldenen unantastbaren Erbthron wie Putin in Russland aufbauen. Er werde schnell verschwinden und der nächste werde kommen. Und bald würde dann auch ein guter Präsident folgen. Wichtig sei, dass die Schneise nach Europa geöffnet ist, alles andere ergebe sich automatisch. Wichtig sei, dass die Richtung jetzt stimme, vieles schon auf den Weg gebracht sei.

Moskau werde immer düsterer, überall begegne man Putin Bildern, Büsten, Shirts, Tassen, Uhren und was auch immer. Selbst in einfachen Läden hinge sein Bild an der Wand. Er könne das nicht mehr sehen, sein halbes Leben habe er sich das mit Lenin antun müssen.

Auch die nationale Propaganda in Russland könne er nicht mehr ertragen, zumal er jetzt am eigenen Leib erlebe, wie gezielt sie gegen die Ukraine gerichtet ist. Russische Buchläden seien voll mit Büchern über die „wahre Geschichte“ der Ukraine. Ein neues Buch trage sogar den Titel „Die Ukraine- das ist Russland“.

Enttäuscht sei er von einigen russischen Künstlern aus dem damaligen Underground, Menschen, die damals viel riskiert hatten für die Freiheit und heute, nachdem sie Karriere gemacht haben, die Freiheit für sie nicht mehr an oberster Stelle stünde

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Buch in russischem Buchladen: „ Die Ukraine, das ist Russland“

Umso mehr habe er es geachtet, dass Makarewitsch von Maschina Wremeni bewusst ein Konzert in Odessa gegeben und sich klar gegen die Annektion der Krim ausgesprochen habe.

Ich kann ihn gut verstehen, schließlich ist er seit 30 Jahren einer meiner besten Freunde, kann nachempfinden.

Dennoch muss ich jeden Tag während ich am heißen Sandstrand am Schwarzen Meer liege, daran denken, dass im selben Land ein paar Hundert Kilometer weiter „oben“  Millionen von Ukrainern traumatisiert vor dem Nichts stehen und unendlich leiden. Alleine eine Million alter Menschen und sicher auch ebenso viele Kinder und Jugendliche. Menschen, die dort geboren, aufgewachsen und beheimatet sind. Hatten sie im plötzlichen Eifer des Gefechts wirklich eine Wahl?

Müsse nicht alles Menschenmögliche getan werden, um diesen Krieg endlich zu beenden, wäre das nicht das eigentliche Ziel eines Menschen, für den die Freiheit an oberster Stelle steht, frage ich Niko. So viele Unschuldige, so viele Kinder, so viele Tote, so viel Zerstörung im eigenen Land?

Doch wirkliches Mitleid mit den Kriegsopfern in Donezk, Lugansk und Umgebung, hält Niko von sich fern. Er hat sich entschieden für die Freiheit, hat nach 30 Jahren mit Frau und Kindern Russland den Rücken gekehrt, das war keine einfache, aber eine konsequente Entscheidung. Damit habe er seinen Teil dazu beigetragen. Die Menschen im Osten hätten sich dagegen entschieden, für Russland. Russland habe den Krieg begonnen und wenn Putin seine Unterstützung stoppen würde, sei der Krieg damit auch sofort beendet. Das liege allein in Putins Hand.