120 000 russische Soldaten an der ukrainischen Grenze sind eine nicht zu übersehende Drohgebärde gegenüber der NATO und jetzt die offizielle Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Stand oder steht ein dritter Weltkrieg bevor? Wieviel Diplomatie ist jetzt noch möglich? Und warum der Blick auf Belarus von besonderer Bedeutung ist.

Im Osten ist der Teufel los

23.2.2022 -Veröffentlicht 1 Tag vor Kriegsbeginn- 120 000 russische Soldaten an der ukrainischen Grenze sind eine nicht zu übersehende Drohgebärde gegenüber der NATO und jetzt die offizielle Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Stand oder steht ein dritter Weltkrieg bevor? Wieviel Diplomatie ist jetzt noch möglich? Und warum der Blick auf Belarus von besonderer Bedeutung ist.

Stand oder steht hier ein dritter Weltkrieg bevor?

Der ukrainestämmige noch bis 2020 amerikanische Experte im Nationalen Sicherheitsrat/NSC, heute pensionierter Oberstleutnant Aleksander Vindman, der als Whistleblower des Telefongesprächs von Trump mit Selenskij bekannt und infolge dessen auf „trumpsche Manier“ im Juli 2020 aus dem Weißen Haus gemobbt wurde, warnte in einem Interview mit amerikanischen Fernsehsender MSNBC: „Wir stehen gerade an der Schwelle eines europäisches Krieges“. Und weiterhin: „Ich halte es für so gut wie sicher, dass es einen großen europäischen Krieg geben wird, in einem vergleichbaren Ausmaß wie der Zweite Weltkrieg. Mit Luftschlägen, der Marine und Angriffen mit Bodentruppen.“

Auch viele Tausende Kilmoter entfernt von Europa sind die kleineren (im Vergleich zu ihren chinesischen Nachbarn) demokratischen Staaten im Nordpazifik der Meinung, dass „die Aussicht auf einen groß angelegten Landkrieg auf dem europäischen Kontinent sehr real“ ist, so das Redaktionsteam der Japan Times. Und weiterhin: „Putin will nichts Geringeres als eine Neufassung der Regeln der internationalen Ordnung“.

Der offensichtliche Schulterschluß zwischen Russland und China, noch dazu an der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Peking, den die chinesische Global Times in ihrem Kommentar wiefolgt betitelte: „Wenn China oder Russland von der USA provoziert werden, dann stehen sie zusammen“, versetzt sie in äußerste Alarmbereitschaft. Allen voran, das von einer chinesischen Invasion höchst bedrohte demokratische Vorzeigemodell Taiwan, das „aufgrund seines zweideutigen diplomatischen Status in gewisser Weise sogar noch verwundbarer ist als die Ukraine“.

Auch der Chefredakteur der NZZ sieht „die Ukraine nur als ein Element in der Kreml Strategie und resümiert: Das Schachspiel um die Dominanz in Eurasien hat erst begonnen.“

Und US-Präsident Joe Biden formulierte es in einem kurzen Satz: „Das ist ein Weltkrieg, wenn Amerikaner und Russen beginnen, aufeinander zu schießen“.

Der ständige Vertreter Russlands, Wassili Nebensja hingegen schloß in einem Interview laut Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax einen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine selbst bei Scheitern der Verhandlungen mit der NATO schon Ende Januar kategorisch aus. Überhaupt wurde und wird in Russland die Absicht eines solches Einmarsches immer wieder also russophobe Panikmache abgetan und zynisch ins Lächerliche gezogen, so auch hier bspw. die aktuelle Datierung durch den amerikanischen Präsidenten.

„Wann-wann, Joe? Da kann ich nicht, am 16ten spielen Unsere Eishockey“.

Wieviel Diplomatie ist jetzt gefragt?

Hätten die Kriegsminister der österreich-ungarischen Monarchie in der Hitze des Sommers 1914 kühlen Kopf bewahrt, wäre das dramatischste Kapitel der Menschheitsgeschichte womöglich zu verhindern gewesen.

Sind wir heute, ein gutes Jahrhundert später wieder in einer ähnlichen Situation? Geht es darum einen dritten Weltkrieg zu verhindern oder sehen wir ob dieser Gefahr den Wald vor lauter Bäumen nicht?

Der bekannteste Oppositionelle und politische Gefangene Russlands Aleksej Nawalny wird in der Titelgeschichte der aktuellen Time Magazin Ausgabe wiefolgt zitiert: Es ist nicht die NATO, die Putin nachts wachhält; es ist der Raum für demokratischen Dissens, den die NATO entlang seiner Grenze öffnet. Diese Angst, argumentiert Nawalny, ist der Motor für alle Konflikte, die Russland mit dem Westen führt. „Um das Land und die Eliten zu konsolidieren“, schreibt er, „braucht Putin ständig all diese extremen Maßnahmen, all diese Kriege – reale, virtuelle, hybride oder einfach nur Konfrontationen am Rande des Krieges, wie wir jetzt sehen“…Anstatt diesen Unsinn zu ignorieren“, schreibt Nawalny, „akzeptieren die USA Putins Agenda und rennen los, um einige Treffen zu organisieren. Genau wie ein verängstigter Schuljunge, der von einem Oberschüler gemobbt wurde.“

Und tatsächlich hat das Putinsche hochgereizte Pokerspiel eine regelrechte Reiseflut unter den Staatsoberhäuptern der NATO-Länder ausgelöst, die sich in Kiew, Washington und Moskau die Klinke in die Hand gaben. Dennoch hat Putin ihnen allen gestern mit der feierlichen öffentlichen Anerkennung der beiden abtrünnigen Volksrepubliken auf dem Territorium der Ukraine die Tür vor der Nase zugeknallt.

Seit vielen Wochen gibt es kaum einen hohen Politiker, der das Geschehene nicht öffentlich kommentierte. Bei so vielen Meinungen und Kommentaren in so vielen westlichen Demokratien mit ihren pluralistischen Medienwelten, entsteht schnell der Eindruck von fehlender Geschlossenheit, von Schwäche und Unsicherheit mit reichlich Steilvorlagen für die staatlich gelenkte Medienpolitik Russlands.

Eine deutsche Verteidigungsministerin, die die Lieferung von 5000 Helmen als eindeutiges Zeichen dafür anpreist, das Deutschland auf Seiten der Ukraine steht. Eine britischeAußenministerin, die nicht weiß, wo die baltischen Staaten liegen, ein innenpolitisch skandalverwickelter „trumpeliger“ britischer Premier, der sein eigenes außenpolitisches Verteidigungs-Format mit Polen und der Ukraine festigen möchte. Die Suche nach dem angeblich abgetauchten Olaf, die insistierenden Integer- Forderungen durch deutsche Waffenlieferungen. Ein weiterer innenpolitisch angekratzter französischer Präsident, der versucht, eine in die Weltgeschichte eingehende Konfliktlösung zu erarbeiten, ein deutscher Alt-Bundeskanzler, der der Ukraine Säbelrasseln vorwirft und der bekannteste Bundestags-Abgeordnete der LINKEN, der von völlig berechtigten Sicherheitsforderungen Russlands spricht.

Diese und viele andere Beispiele sowie nicht zuletzt der Wechsel des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenbergs zum Chef der norwegischen Zentralbank inmitten der Krise, werden in den staatlich gelenkten russischen Medien und seinen sozialen Netzwerken brühwarm verheizt.

Welches Bild besteht überhaupt in den russischen Medien? Wie lässt der autokratische Präsident den Konflikt seinen Bürgern vermitteln?

Im Grunde recht einfach,- er lässt alles, was in der westlichen Welt über den Konflikt gesagt wird, auf den Kopf stellen: Russland ist das Opfer und die USA/NATO der Aggressor. Niemand habe vor, die Ukraine anzugreifen, aber man habe klare, vollkommen berechtigte staatliche Sicherheitsinteressen, die es in jedem Fall durchzusetzen gelte.

Veröffentlicht werden darf im Grunde alles, was nur irgendwie in diese Generallinie passt. In dieser Kastration der Medienvielfalt gewinnen diejenigen, die sich innerhalb dieser Linie mit einem eigenen Informations- und Unterhaltungswert vermarkten können.

Ein prägnantes Beispiel hierfür ist der bekannte Fernseh-Moderator Wladimir Solowjow. Seine quotenstarke sonntagabendliche Talkshow ist so etwas wie das russische Pendant zur westlichen Polit-Satire. Sie liefert dem Zuschauer nicht nur Fakten durch Einblendung von Bildern aus der internationalen Medienwelt, sondern reißt ihn in ihrer überzogenen emotionalen Entrüstung mit in eine persönliche Angegriffenheit und implementiert gleichzeitig mit ihren zynischen besserwisserischen Gegenfragen ein emotional geladenes Verteidigungspaket.

Hier ein kleines vergleichsweise harmloses aber leicht verständliches Beispiel nach der Einblendung des Ausschnitts einer Pressekonferenz mit Jen Psaki, der Sprecherin des Weißen Hauses: Solowjow: „Psaki pöbelt uns an. Wurde sie speziell dafür ausfindig gemacht? Ein spezieller Typus gezüchtet? … Wo haben sie diesen Eintagsschmetterling gefunden? Diese Ebene der Idiotie? 100 000 (Soldaten) auf dem Territorium Russlands – das ist Aggression! Nun, sie sind einfach krank! Wie viele Zehntausende amerikanischer Soldaten sind im Irak, in Syrien, überall? Und das ist keine Aggression?!… Und natürlich konkurriert die britische Außenministerin mit ihr. Übrigens soll sie Boris Johnson ersetzen. Sie sagen, dass sie in diesem Team am wenigsten trinkt… die gute Frau, wie kann den baltischen Verbündeten durch das Schwarze Meer geholfen werden?! Wen stellt man da ein?! … Diese Stufe der Amtsdegradierung ist phänomenal!“

Dazu Prof. Vitalij Tretjakow (Dekan des Fachbereichs Fernsehen an der Moskauer Lomonosow Universität): „… es gibt im Russischen den Ausdruck „sygrat durotschku“ (den Dummen spielen) … sie (der Westen) haben das bekommen, was sie wollten. Verteidigungsminister – Frauen, Außenminister – Frauen. Was wollen Sie von Psaki? Heute herrscht doch im Westen das Argument, das an das Nichtwissen appelliert. Sie schämen sich nicht einmal dafür. Ich denke, dass Dummköpfe speziell für solche Posten ernannt werden. Weil es sehr praktisch ist, wenn ein Dummerchen im Namen eines Landes etwas verkündet. Für den Fall des Falles, kann man immer noch sagen, dass diese Person ein Dummkopf sei u.s.w. Jetzt gibt es eben diese Dummerchen. Nun, es sind eben Frauen, was soll man von ihnen erwarten…“

Auch ein weiterer solch propagandistischer Überlebenskünstler der russischsprachigen Social-Media-Welt, der ukrainische Exil-Blogger Anatolij Scharij, bekannt für seine Korruptions- und Ultranationalismuskritik an ukrainischen Regierungsvertretern, schlägt von anderer Seite in diese Kerbe. In seinem Video-Blog „klärt er auf“ wie Kuleba (ukrainischer Außenminister) und Selenskij mit Deutschland kämpfen. Eingeblendet werden zahlreiche Statements von NATO-Ländern dazu, dass eine Aufnahme der Ukraine in die NATO nicht auf dem Plan steht. Warum lege man sich daher ständig alleine mit Deutschland an? … „aber dass sie für diesen Kampf ebendiese Baerbock ausgewählt haben und nicht etwa all die anderen, auch das sagt einiges aus über die Couragiertheit dieser Leute (ukrainische Regierung).“

War/ist das russische Kriegsmanöver an der ukrainischen Grenze also nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver für die eigene Bevölkerung, so wie von Nawalnij behauptet?

Ja, es war ein Ablenkungsmanöver von zentraler Bedeutung für Putins Politik, das zudem noch vor einigen Jahren so nicht funktioniert hätte. Über viele Jahre hinweg wurde die Meinungs- und Pressefreiheit Stück für Stück beschnitten und gleichzeitig die Zugänge für die Putinsche Generallinie ausgebaut.

So fühlt sich der russische Durchschnittsbürger schon längst von den USA und der EU entwürdigt und gedemütigt. Und jetzt gar noch in seinen territorialen Rechtsansprüchen angegriffen. Gerade für die ältere Generation hat die territoriale Größe Russlands eine identifikatorische Bedeutung. Der sowjetische Systemzerfall war nicht zuletzt einem ökonomischen Systemzerfall geschuldet, nach siebzig Jahren Sowjetunion war der Bürger dort im Vergleich zu den westlichen Industrieländern zum Bettler geworden. Diese Pein wurde durch die territoriale Größe und Weltmachtposition sublimiert.

Nach der sanften Revolution hatte man sich von der unbekannten Wohlstandsgesellschaft hinter dem Eisernen Vorhang erhofft mit offenen Armen empfangen und respektiert zu werden, statt dessen stieß man auf Desinteresse und fühlte sich als Mensch zweiter Klasse behandelt.

Schon 2007 gab Putin in seiner bekannten Münchner Rede klar zu verstehen, dass Russland seine Weltmachtposition auch weiterhin innehabe, eine monopolare Weltmachtposition der USA unrealistisch und gefährlich sei. Schon hier bezeichnete er die Osterweiterung der NATO als deutliche und undankbare Provokation der russischen Sicherheitsinteressen. Dass diese Rede im Westen auf offene Aberkennung dieser Position stieß, hatte nicht nur die russischen Hardliner getroffen, bis heute ist die damalige Überschrift der Los Angeles Times dazu bei vielen Russen in prägnanter Erinnerung: „Die brüllende Laus“.

Und selbst wenn Russland ohne die ehemaligen Sowjetrepubliken das größte Land der Welt geblieben ist, so ist die Ukraine natürlich nicht mit sibirischem Hinterland zu vergleichen. Sie ist mit Frankreich das größte Land Europas, für Russland die Haustür zu Europa und somit integrativer Bestandteil dieses russischen Imperialstolzes.

Hinzu kommt die enge historische Verwobenheit mit den Ukrainern, die als eine Art heilige Dreieinigkeit zwischen Russen, Ukrainern und Belarussen schon seit Jahrhunderten in den Geschichtsbüchern vermittelt wird.

Dass Putin es 2014 schaffte „das russische Juwel Krim zu retten“, rechnen ihm die Russen bis heute hoch an, seine Beliebtheitswerte schnellten damals vor diesem Hintergrund von 60 auf 89 Prozent.

Diese und ähnliche typisch Befindlichkeiten des russischen Durchschnittsbürgers einer 145 Millionen Bevölkerung, konnten mit dem „Kriegsmanöver“ täglich rauf und runter bespielt, gefestigt und ausgebaut werden. So auch der enge Schulterschluss mit dem eigentlich eher unliebsamen China.

Allerdings wirksam nur unter dem einem Axiom: Russland hat gar nicht vor die Ukraine militärisch einzunehmen.

Doch dient(e) das bedrohliche Kriegsszenario lediglich als ein Ablenkungsmanöver zur Konsolidierung des Landes und der Eliten? Sollte „dieser Unsinn“, so wie Nawalny sagt, „einfach ignoriert“ werden?

Nein, das hat nichts mit hoher Diplomatie zu tun und es erfasst weder den innen-, noch außenpolitischen Ernst der Lage.

Man kann Putin sicher vieles nachsagen, nicht aber, dass er kein ausgezeichneter innen- und außenpolitischer Stratege, kein „global player“ sei. Schon 1996 hat er mit den Shanghai five zusammen mit China den Grundstein für die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit/SOZ, der heute weltweit größten Regionalorganisation, gelegt und seit 2011 besteht das Wirtschaftsbündnis mit den BRICS Staaten.

Während alleine Russland und China fast doppelt so groß sind wie ganz Europa und die USA zusammengenommen mit einer mehr als doppelt so großen Bevölkerungsanzahl, so bedecken diese politischen und wirtschaftlichen Bündnisländer (SOZ/BRICS) weit mehr als ein Drittel der gesamten Erdoberfläche und stellen fast die Hälfte der Weltbevölkerung. Und das ohne die zahlreichen indirekten Partner und Beitrittsanwärter der SOZ, so hat bspw. gerade im vorigen Jahr Iran einen Antrag auf Vollmitgliedschaft gestellt.

Wenn also der russische und chinesische Staatspräsident die internationale Medienpräsenz der Olympischen Spiele nutzen, um ihren Schulterschluss gegen die NATO feierlich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, dann scheint die äußerste Alarmbereit der demokratischen Staaten im Nordpazifik und deren Feststellung, dass „Putin nichts Geringeres will als eine Neufassung der Regeln der internationalen Ordnung“ realpolitisch seriöser als der erhobene Zeigefinger des deutschen FDP Finanzministers, dass sich „die Führer des russischen Volkes an die Hausordnung in Europa halten müssen“.

Und gestern hat Putin mit den Bildern seiner Unterzeichnung der Anerkennung der separatistischen Weltöffentlichkeit gezeigt, was er von der Hausordnung der EU hält.

Ist da überhaupt noch Diplomatie möglich? Kommen wir zurück auf Putins einschneidende „Münchner Rede“ von 2007, Ganz eindeutig hat er hier vor 15 Jahren schon diese „Neufassung“ der Regeln der internationalen Ordnung ausgeführt.

Aus russischer Sicht hat Putin hier in einer gewissen Form schon damals auf den Tisch gehauen und den gedemütigten Stolz der großen Nation verteidigt. Er hat den Weltmachtanspruch der USA, die Scheinheiligkeit und den aggressiven Missionsdrang von westlichen Demokratien, der NATO oder der OSZE angegriffen und postuliert, dass Russland immer ein eigenständiges Weltmachtzentrum war und es auch bleiben wird.

Ganz banal und kurzgefasst, hat er die Welt als einen großen Kuchen dargestellt, den die USA für sich beansprucht, was angesichts der zukünftigen weltpolitischen Entwicklung völlig unrealistisch und inakzeptabel sei.

Doch trotz aller Deutlichkeit von Putins Worten und der einzigartigen internationalen Vertretung von außenpolitischen Sicherheits- und Verteidigungsexperten, löste seine damalige Rede zuerst einmal große Verwirrung aus. Was hatte er da jetzt genau gesagt, warum hatte er es gesagt und wie hatte er es gemeint?

Und noch heute, fast auf den Tag genau 15 Jahre später, wenn gerade nach den amerikanischen auch die deutschen Zivilisten von ihren Ländern aufgefordert werden, die Ukraine zu verlassen und eine Zivilbevölkerung von 750 000 Personen aus den beiden selbsternannten Volksrepubliken des Donbass nach Russland „in Sicherheit“ gebracht werden soll, selbst heute, nach der gestrigen pathetischen Rede und Anerkennung der separatistischen Donbassrepubliken, fehlt es dem Westen an geistiger Disposition diese Geschehnisse voll zu erfassen.

So reagierte selbst der damalige Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer nach Putins Münchner Rede auf die phobische Entrüstung über die NATO-Osterweiterung eher aus dem hohlen Bauch heraus: Wie könne man sich denn sorgen, „wenn Demokratie und Rechtsstaat näher an die Grenzen rücken“, fragte er.

Doch genau hiermit hat er den Kern der Sache getroffen, denn er spricht hier Demokratie und Rechtsstaat in einem Atemzug aus.

Sind wir heute, ein gutes Jahrhundert später wieder in einer ähnlichen Situation wie die Kriegsminister nach der Ermordung des Thronfolgers 1914?

Natürlich lässt sich das kaum vergleichen, in Westeuropa gibt es nach einer mehreren Generationen einer 99 Luftballon Politik keine Kriegsminister und auch keine Düsenflieger mehr.

Putin zeichnete in seiner Rede die Gefahr einer monopolistischen amerikanischen Welt, in der „nur ein Hausherr, ein Souverän“ herrscht. Auch definiert er in dieser Rede die Demokratie, die „bekanntermaßen die Herrschaft der Mehrheit bedeutet, unter Berücksichtigung der Interessen und Meinungen der Minderheit.“

Kein Wunder, dass uns solche Reden von Hausherren, Souveränen und Herrschaft der Mehrheit, Kopfschmerzen bereiten. Wenn wir überhaupt von Souveränen reden, dann ist der Souverän das Volk, selbst wenn in Großbritannien in diesem Jahr das 70te Thronjubiläum der Queen sicher glorreich gefeiert wird. Wenn wir von Demokratie reden, gehört für uns der Rechtsstaat so selbstverständlich dazu, dass wir beide Begriffe gar nicht mehr auseinanderhalten können.

Doch dennoch sind unsere derzeitigen diplomatischen Bemühungen ausschließlich auf den „Hausherren, auf den Souverän“ Russlands ausgerichtet und auch Nawalnys Vergleich mit einem „verängstigten Schuljungen, der von einem Oberschüler gemobbt wurde“ ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Zwar haben sich die NATO Mitgliedsländer ob dieses bedrohlichen Militärmanövers recht schnell konsolidiert und auf ein klares kleinstes gemeinsames Mantra geeinigt: „Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ist für die NATO eine Grenzlinie überschritten, die für Russland ganz harte Sanktionen zur Folge hat“.

Doch gleichzeitig heißt es, dass eine Aufnahme der Ukraine in die NATO nicht auf dem Plan stehe und auch keine NATO-Truppen in der Ukraine kämpfen werden.

Bei den ganz harten Sanktionen, die man auf „den Tisch gelegt“ hat, hat man den SWIFT Ausschluss, das Einfrieren von Kapital, vor allem in der Londoner Oligarchenoase und nicht zuletzt dann auch das deutsche Trumpf North-Stream 2 längst ausgespielt.

Ein Cartoon auf einer bekannten russischen Bloggerwebsite zeigt Putin neben Lawrow unter vorgehaltener Hand zuflüsternd: „Wenn Sie von den Sanktionen anfangen, dann versuche nicht zu grinsen“.

Nicht umsonst hat Putin in seiner Rede schon vor 15 Jahren explizit darauf aufmerksam gemacht, dass „das summierte BIP Indiens und Chinas hinsichtlich der paritätischen Kaufkraft schon größer als das der USA ist. Das gleichermaßen berechnete BIP der BRIC-Staaten – Brasilien, Russland, Indien und China- übersteigt das BIP der EU. Nach Auffassung der Experten wird diese Entwicklung weiter anhalten. Es besteht kein Zweifel, dass das wirtschaftliche Potenzial neuer Wachstumszentren auf der Welt unausweichlich auch in politischen Einfluss umschlägt und die Multipolarität stärkt.“

Was, wenn hier gar kein Poker um die Sicherheitsbedrohung durch die NATO, um die Ukraine, um demokratische Werte, sondern das uralte Königsspiel Schach um die weltpolitischen Einflusssphären, konkret um den eurasischen Raum, gespielt wird?

Ein Einmarsch in die Ukraine, ein Land von der Größe Frankreichs mit 44 Millionen Menschen, die sicher nicht mit flatternden russischen Fähnchen winkend Spalier stehen werden, würde Bilder in die Welt setzen, die niemand nur anzudenken vermag und den Falschspieler als Kriegsverbrecher für den Rest seiner Tage hinter Gitter bringen können. Ein solcher Krieg gegen den „treulosen, aber doch eigenen Bruder“ fände auch keine Rückendeckung in der russischen Bevölkerung. Das zumal einer wochenlangen Dauerbeschallung, dass es absurd sei zu denken, Russland wolle gegen die Ukraine in den Krieg ziehen. Es ist eine Sache, sich abends vor dem Fernseher über den westlichen Aggressor aufzuregen und eine andere, den Sohn dann doch in einen blutigen Bruderkrieg zu schicken. Dieses Vorgehen würde zu den harten Strafzahlungen, überdimensionale eigene Ressourcen verschlingen und die Installation einer Militär-Junta erfordern. Diese nähme das gesamte russische Heer (von ca. 850 000 Aktivisten) in Anspruch und würde somit alle anderen Fronten mit einer Landesgrenze von immer noch über 20 000 km offenlegen. Auch hatte China, der starke Verbündete, den Putin gerade ins Boot holen konnte, kurz darauf auf der jüngsten Münchner-Sicherheitskonferenz klar formuliert, dass sie hier „nicht mitziehen“, dass auch für sie „für die Ukraine die Grundsätze von Souveränität, Unabhängigkeit und territorialer Integrität gelten“.

Insofern hatten auch viele ausgezeichnete Russland Experten diesen russischen Einmarsch in die Ukraine klar ausgeschlossen und sich den Kopf zermartert, was der große Stratege Putin mit diesem Schachzug nun letztlich erreichen möchte.

Bis gestern.

Die Szenerien des glorreichen Empfangs der russischen Olympioniken, der gemeinsamen „fachlichen“ Beratung der eigenen Sicherheitsexperten zu dem offiziellen Antrag auf Anerkennung der Volksrepubliken des Donbass, der einstündigen pathetischen Rede an das Volk darüber, dass die Ukraine kein eigener Staat, sondern Kernbestandteil Russlands sei und die „abschließende“ feierliche Unterzeichnung der Anerkennung – Das war Wahnsinn, im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Gerüchte über Putins Parkinson und Krebserkrankung, die seit einigen Jahren schon im Umlauf sind, scheinen sich bestätigt. Obgleich einer langen Rede, einer langen Sicherheitssitzung und einer sauberen Unterschrift, wirkte sein Gesicht fahl und von der Einnahme von Steroiden gezeichnet. Mehr und mehr isoliert er sich, zieht sich der Kreis seiner Vertrauten immer enger zu, übrig geblieben sind fast ausschließlich Hardliner russischer Großmacht- und eigener Kapitalinteressen.

Und doch sind wir wieder überfordert, stehen unter Zugzwang. Die „Rechnerei“ beginnt wieder von Neuem. Klar ist, dass die angekündigte Strafe für Fehlverhalten nun folgen muss, aber …

Noch immer steht der König mitsamt seinen wichtigen Figuren auf seiner Ausgangsposition, noch gibt es keinen offiziellen Einmarsch russischer Truppen auf ukrainisches Gebiet. Allerdings wurde der gesamte Donbass der Ukraine als Territorium höchst offiziell abgesprochen. Russland hat sich an europäische Sanktionen gewöhnt, auch ist der Lebensstandard in den weiten Regionen noch immer weit unter dem estlicher Industrieländer. Inwieweit wir uns mit dem vollen wirtschaftlichen Sanktionspaket selbst destabilisieren, ist noch nicht abzusehen.

Wenn wir uns auf die Schachpartie einlassen, geht es darum, den König matt zu setzen. Und was ist ein König ohne Bauern?

Die westlichen Gesellschaften, ihre Fachleute und Repräsentanten müssen sich jetzt massiv auf die russische Gesellschaft zubewegen.

Aber nicht mit Buh-Rufen und erhobenem Zeigefinger. Sondern mit Wissen und Verständnis um die Befindlichkeiten, mit menschlichen Eingeständnissen von eigenen Mängeln, von systemischen Fehlern und Versäumnissen, mit Klärung von Missverständnissen und Beseitigung von Lügen.

Hier gibt es Vieles aufzuarbeiten und klarzustellen, was von der EU seit vielen Jahren in der Finanzierung von Projektarbeit schon getan wurde, doch die breite Bevölkerung vor Ort nicht erreichen konnte.

Heute sind diese Zugänge mehr denn je blockiert, doch sie müssen mehr denn je gesucht und genutzt werden. Und man sollte dabei immer wieder zum Kern der Sache kommen: Zum Rechtsstaat.

Sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr und wie hilft dabei der Blick auf Belarus?

Über vieles lässt sich streiten, über Demokratie, Geschichte, Wirtschaft, nicht aber über den Rechtsstaat.

Schauen wir mal auf den anderen kleinen Bruder Russlands, auf Belarus, das wie wir alle wissen, vom Stattthalter des russischen „Souveräns“ voll gestützt wird und natürlich auch Mitglied der SOZ ist. Hier gibt es keinen Donbass, keine Krim, keinen Bruderverrat, keine 44 Millionen, sondern nur 9 Millionen Einwohner. Doch sitzen hier seit den friedlichen Protestbewegungen im Sommer 2020 über Tausend meist junger friedlicher Menschen hinter Gittern. Herausgerissen aus ihren Zimmerchen bei den Eltern von brutalen Rollkommandos, ohne Belehrung ihrer Rechte, ohne das Recht auf einen Anwalt, ohne Rechte eines Anwalts, monate-, gar jahrelange Unterbringung in Untersuchungshaft mit ständigen Verhören, psychischer und physischer Folter, ohne Besuchsrecht, nicht einmal der Eltern, ohne Anklage. Ohne den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, ohne Berücksichtigung sozialer Umstände, von (nicht vorhandenen) Vorstrafen, von Gefahr im Verzug oder jeglichen Mindestanforderungen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Mit drakonischen lebenslangen Verurteilungen hinter geschlossenen Türen, ohne den Angeklagten selbst, ohne das Recht auf Verteidigung, ohne unabhängige Staatsanwalt- oder Richterschaft. Mit Hunderttausenden belarusischer Menschen, Angehörigen und Freunden dieser Gefangenen, die nachts nichts mehr schlafen können, mit Tausenden junger Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und von ihren Lieben getrennt sind…

Diese „Brüder und Schwestern“ sind es, die jetzt die heilige kleinrussische Dreieinigkeit brauchen und keinen Bruderkrieg.

Und um am Schluss noch einmal auf Putins Münchner Rede zurückzukommen, er beklagte hier, dass die USA Russland sein Rechtssystem aufstülpen wolle und dass das niemandem gefallen könne.

Doch ist es genau dieses rechtsstaatliche unabhängige Rechtssystem, das hohe Prinzip der Gewaltenteilung, das ungeachtet der naturbedingten Streitbarkeit einer Demokratie uns davor schützt, dass der Staat seinen Bürgern eine solch extreme Gewalt zufügen kann!