Weihnachten in Stanytsia Luhanska

Die Reise nach Stanytsia Luhanska ist für mich immer eine Art persönlicher Herausforderung,  denn man weiß nie, was einen erwartet und was man zu sehen bekommt. Um ehrlich zu sein, erwartete ich bei meiner Ankunft nicht den rosigsten Ort der Welt. Die Infrastruktur an der Front ist in der Regel nicht so schön anzusehen, und man befürchtet immer, dass sie sich verschlechtern könnte. Als ich jedoch im Januar 2022 in Stanytsia Luhanska ankam, stellte ich mit Erleichterung fest, dass sich Stanytsia Luhanska nicht nur nicht verschlechtert hatte, sondern sich vielmehr Schritt für Schritt weiterentwickelt, sogar trotz der wachsenden militärischen Bedrohung durch die Russische Föderation.

Wie immer begann ich meine Reise mit einem Blick auf die Hauptstraße der Stadt. Vor einem Jahr, im Januar 2021, hatte ich ein Foto von dem völlig zerstörten Verwaltungsgebäude gemacht. Und wie groß war meine Überraschung, als ich anstelle der Ruine vom letzten Jahr das neue restaurierte Gebäude sah.

So erfuhr ich, dass dort am 16. November 2021 das neue Verwaltungsdienstleistungszentrum „Dija Zentr“ eröffnet wurde. Dieses Zentrum bietet den Bürgern bis zu 260 verschiedene Verwaltungsdienstleistungen an. Eine halbe Million Dollar wurde für die Ausstattung des Zentrums ausgegeben. Das Gebäude wurde im Rahmen des UN-Programms für Wiederaufbau und Friedenskonsolidierung renoviert und ausgestattet. Jetzt ist es ein warmes und gemütliches zweistöckiges Gebäude, in dem sowohl den Bewohnern der Gemeinde Stanytsia-Luhanska als auch den Bewohnern der vorübergehend unkontrollierten Gebiete effektiv geholfen wird. Das sind schätzungsweise 25.000 Menschen. Für die Zukunft ist geplant, die Liste der Verwaltungsdienste auf 400 zu erweitern. Früher mussten die Menschen in verschiedene Teile der Gemeinde Stanytsia-Luhanska reisen, z. B. nach Schtschastja oder Novoajdar, um eine einfache Bescheinigung zu erhalten. Jetzt können die Menschen das neue Zentrum, das nur wenige Gehminuten vom Kontrollpunkt Stanytsia Luhanska entfernt liegt, für all diese Verwaltungsangelegenheiten aufsuchen.

Natürlich gab es in diesem Jahr auch Änderungen an den Kontrollpunkten der Grenzübergänge mit den staatlich vorübergehend nicht kontrollierten Gebieten. Nach Angaben des staatlichen Grenzdienstes der Ukraine wurde der Verkehr an fünf der sieben bestehenden Kontrollpunkte an der Grenze zum Donbas vollständig blockiert. Derzeit sind zwei Kontrollpunkte – Stanytsia Luhanska in der Region Luhansk und Novotroitske in der Region Donezk – in Betrieb. Stanytsia Luhanska ist sieben Tage die Woche von 8 bis 16 Uhr geöffnet. Aufgrund der Pandemie ist der Personenverkehr im Vergleich zum letzten Jahr deutlich zurückgegangen. Jede Woche überqueren etwa 13.000 Menschen den Grenzübergang Stanytsia Luhanska in beide Richtungen. Im Dezember 2021 gab es rund 55.000 Übertritte,  etwa 17 Prozent mehr als im Dezember 2019. Dennoch entwickelt sich der Grenzübergang Stanytsia Luhanska. So wurde zum Beispiel am Kontrollpunkt eine ständige Impfstelle gegen Corona eingerichtet. Impfstoffe wie Comirnaty (Pfizer) und CoronaVac können dort verabreicht werden. Diese Einrichtung ist sieben Tage in der Woche geöffnet. Durch einen Erlass des Ministerkabinetts der Ukraine wurde auch die Quarantänepflicht für Personen abgeschafft, die aus den nicht kontrollierten Gebieten in das ukrainisch kontrollierte Gebiet reisen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich also nicht mehr der obligatorischen Selbstisolierung unterziehen und die Vdoma-Mobil-App installieren, was das Leben der Menschen in diesem Grenzgebiet, insbesondere der Rentner, erheblich erleichtert.

Der Kontrollpunkt Novotroitske funktioniert nicht so reibungslos wie der Kontrollpunkt Stanytsia Luhanska. Vom 24. bis 29. Januar wurden nur einzelne Bürger zweimal pro Woche (Montag und Freitag) durchgelassen. An diesem Kontrollpunkt ist auch eine Corona-Impfung möglich. Die Impfstelle ist montags und freitags geöffnet. Es ist zu beachten, dass dieser Kontrollpunkt zwar offen ist, aber nicht jeder durchkommen darf. Wer in das vorübergehend besetzte Gebiet reist, muss sich im Voraus bei der so genannten „Interdepartementalen Zentrale der Volksprepublik Donezk/DVR“ anmelden. Nur diejenigen, die in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten gemeldet sind, dürfen die besetzten Gebiete verlassen.

Und doch zeigt all das, dass Stanytsia Luhanska nicht stirbt. Das mag unter den heutigen Bedingungen schwierig sein, aber es entwickelt sich. Und es gibt immer Raum für Hoffnung und Glauben. Das hat mir Pater Alexej, Kirchenoberhaupt der St.-Nikolaus-Kirche, erzählt. Mit seiner Unterstützung konnte die deutsche Sektion der IGFM ein humanitäres Projekt organisieren und durchführen, um den Menschen in Stanytsia Luhanska, insbesondere Rentnern und kinderreichen Familien, zu helfen.

Wir lernten Pater Alexej vor einem Jahr auf meiner letzten Reise nach Stanytsia Luhanska kennen. Er zeigte mir das Territorium der St.-Nikolaus-Kirche und erzählte mir von seinen Gemeindemitgliedern. Die St.-Nikolaus-Kirche ist nicht nur sehr beeindruckend von außen, sondern auch von innen auffallend schön. Doch jede Geschichte hat ihre Tücken. In der kalten Jahreszeit ist es nicht möglich, darin Gottesdienste abzuhalten, da die enormen Gaspreise es nicht erlauben, das Gotteshaus ausreichend zu heizen. So werden im Spätherbst und im Winter als Notlösung Gottesdienste  und größere kirchliche Feiern in der so genannten Winterkirche abgehalten, einem kleinen zweistöckigen Gebäude auf dem Gelände der St.-Nikolaus-Kirche.

St.-Nikolaus-Kirche

 

In der Winterkirche

 

In der Winterkirche

Damals wurde die Idee geboren, älteren Menschen und kinderreichen Familien in Stanytsia Luhanska auf der Grundlage der St. Nikolaus-Kirche humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Im Januar 2022 haben wir mit den von den IGFM-Förderern gesammelten Spenden die notwendigen Medikamente für Rentner und Lebensmittelpakete für kinderreiche Familien gekauft. Insgesamt wurden 39 Rentner und 9 kinderreiche Familien unterstützt.

Es ergab sich dann so, dass die Verteilung der humanitären Hilfe am Tag vor dem orthodoxen Weihnachtsfest stattfand. Pater Alexej bezeichnete dies als ein Weihnachtswunder für die Gemeindemitglieder. Ich habe diese Menschen an diesem Tag mit meinen eigenen Augen gesehen. Sie holten zaghaft ihre Medikamente und bedankten sich aufrichtig für meine Hilfe. „Wissen Sie, viele haben den Donbas aufgegeben. Aber wir sind hier! Wir leben hier, wir existieren. Bitte vergessen Sie uns nicht“, sagte eine ältere Frau. Wie kann man das bestreiten?

Verteilung von Medikamenten an Rentner

 

Verteilung von Lebensmittelpaketen an kinderreiche Familien

Am nächsten Tag lud Pater Alexej mich und meine Familie zu einem Gottesdienst zum Fest Christi Geburt ein. Es waren so viele Menschen versammelt, dass es eine unvergessliche Atmosphäre war. Am Ende sang die ganze Gemeinde ein schönes ukrainisches Lied über die Geburt Christi. In solch berührenden Momenten der Einheit glaubt man tatsächlich, dass alles in diesem Leben nicht umsonst ist.

Heute, wo die ganze Welt eine neue russische Invasion befürchtet, ist es besonders wichtig, diejenigen nicht zu vergessen, die sich nicht selbst verteidigen können. Was kann ein älterer Mann gegen einen Mann mit einem Maschinengewehr tun? Nichts. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Weltgesellschaft nicht vergisst, dass es in Europa einen Ort gibt, an dem Tausende von älteren Menschen jeden Tag einer Gefahr ausgesetzt sind, ohne es zu merken. Doch gleichzeitig leben viele von ihnen weiter nach dem Satz aus dem Roman des berühmten Leo Tolstoj: „Wir müssen leben, wir müssen lieben, wir müssen glauben“. Und das ist das schönste Paradox unserer Zeit.