Russland: „Eine andere Arbeitsstelle gab es einfach nicht“

Wie der 20-jährige Anton Tumanow aus Kosmodemjansk in den Krieg gelangte und starb. Ein Bericht seiner Mutter.

Übersetzung der IGFM eines Artikels der russischen Oppositionszeitung Nowaja Gaseta (Neue Zeitung) vom 3. September 2014: http://www.novayagazeta.ru/society/65075.html Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin Elena Ratschewa und der Nowaja Gaseta.

Der Sarg, in dem Anton Tumanow zu Hause eintraf, war verschlossen. „Dort gab es ein kleines Fensterchen, wenigstens das Gesicht konnte man erkennen. Die Jungs haben mir gesagt, dass es in ihrer Einheit solche gab, von denen nur noch Fleischfetzen übrig geblieben waren und man jetzt DNA-Tests mache. Die Eltern haben ihre Kinder noch nicht zurückbekommen.“

Auf dem Wohnzimmersofa, auf dem früher Anton geschlafen hat, sitzt seine Mutter, Jelena Petrowna Tumanowa. Sie richtet den schwarzen Trauerschleier auf ihrem kurzen grauen Haar zurecht und sucht in ihrer Tasche die Sterbeurkunde ihres Sohnes – aus einem unbestimmten Grund trägt sie sie bei sich.

Die persönlichen Sachen und den Wehrdienstausweis des Sergeanten Anton Tumanow hat man der Mutter noch nicht zurückgegeben. Am 20. August erhielt sie nur den Sarg und eine Kopie der Sterbeurkunde aus dem Rostower Leichenhaus. Darin eingetragen das Sterbedatum – der 13. August 2014, der Ort – „Vorübergehender Stationierungsort der Militäreinheit 27777“, der Zeitpunkt – „Während der Ausübung seines Militärdienstes“, die Sterbeursache – „Ganzkörperversagen. Splitterverletzungen der unteren Gliedmaßen mit Zerstörung der großen Blutgefäße. Schwerer massiver Blutverlust.“

„Ihm wurden die Beine abgerissen, versteht sich. Die Jungs haben es erzählt. Aber ich habe auch so gespürt, dass im Sarg nicht sein ganzer Körper ist.“

Die Mitteilung des Kommandos der Militäreinheit 27777, dass Anton bei „Ausübung seines Militärdienstes“ ums Leben kam.

Anton ging zur Armee 2012 in Kosmodemjansk (21.000 Einwohner, 100 km von Joschkar-Ola, der Hauptstadt der an der Wolga liegenden Teilrepublik Mari El). Seinen Grundwehrdienst absolvierte er in Pensa in Zentralrussland, den Wehrdienst leistete er in Süd-Ossetien im Südkaukasus ab.

„Als er nach seinem Wehrdienst nach Hause kam, wollte er Arbeit finden, aber es ist ihm nicht gelungen“, erzählt Elena Petrowna ruhig.“ Als Dienstpersonal in der Untersuchungshaftanstalt haben sie ihn wegen Blutarmut nicht genommen. Für die Armee war er geeignet, aber für den Job nicht. Anton fuhr nach Nischnij Nowgorod, wo er drei Monate in einer Autofabrik gearbeitet hat. Er fand keine Unterkunft, eine Wohnung zu mieten war zu teuer. Er kam zurück. Ein paar Mal reiste er nach Moskau, hat dort mit einigen Jungs auf Baustellen gearbeitet. Den Lohn hat man ihnen nicht ausbezahlt, ich musste ihm Geld für die Rückreise schicken.

Letztes Foto von Anton Tumanow (ganz rechts) im „vorübergehenden Stationierungsort“ nahe Sneschnoje im Gebiet Donezk, Ukraine. Gemacht von einem Kameraden Antons und auf VKontakte ins Netz gestellt. Der Zweite von rechts ist Robert Arutjunjan, der vermutlich ebenfalls mit Anton umgekommen ist. Das Schicksal der anderen ist unbekannt.

Und wo soll man bei uns in Kosmodemjansk Arbeit finden? Gerade mal zwei Fabriken sind übrig geblieben, eine stellt irgendwelche Kunststoffteile her, die andere weiß ich jetzt nicht was. Im Mai sagte er: „Mutter, ich gehe zur Armee“.

Ich: „Warte doch ein bisschen, du siehst doch, was gerade los ist… Gott behüte, sie schicken dich in die Ukraine. Wir hatten ja bereits Tschetschenien, hatten Afghanistan…“ – „Mama, unsere Truppen werden nicht dahin geschickt. Ich hab schon entschieden, ich gehe. Ich brauche Geld. Ich gehe ja nicht in den Krieg, ich gehe arbeiten. Eine andere Arbeit gibt es ja einfach nicht.“

Im 21. Juni fuhr Anton in die 18. Motschützenbrigade, die Einheit Nr. 27777, ins tschetschenische Dorf Kalinowskaja. Den Dienstort hatte er selbst gewählt. Er sagte immer, dass er sich in die Bergwelt Süd-Ossetiens richtig verliebt hätte (dort war er ja während seines Wehrdienstes): „Ich möchte beim Einschlafen die Berge sehen und beim Aufwachen die Berge sehen“. Er hat sich beeilt, noch bis Ende des Monats dort einzutreffen, um für den Juli schon seinen Sold zu bekommen, aber erst in der Einheit hat er erfahren, dass es eine dreimonatige Probezeit vor Vertragsabschluss gibt, in der er keinen Sold erhält.

„Er rief an, sagte: „Zwei Monate wird es auf jeden Fall kein Geld geben“. Ich: „Sag ehrlich, soll ich Dir Geld schicken?“, erzählt Jelena Petrowna. „Na ja, was Du entbehren kannst“. Ich habe ihm 3.000 Rubel (ca. 50 Euro) geschickt, soviel wie ich zusammenbringen konnte. Ich bin ja nur Krankenschwester, verdiene 5.500 Rubel im Monat (ca.110 Euro). Anton berichtete, dass sie dort alle ohne Geld saßen, man den Sold verzögerte. Als nach der Beerdigung Jungs aus seiner Einheit eintrafen, seine Dokumente mitbrachten, stellte sich heraus, dass sie außer der Zugfahrkarten keine Spesen bekommen hatten, nur die Fahrkarten und ab mit ihnen. Erst bei uns hier im Kreiswehrersatzamt haben sie etwas zu essen bekommen.“

Einen Sold für seine eineinhalb Monate Dienstzeit hat Anton nie bekommen. Seiner Familie hatte er gesagt, dass man ihm 40 bis 50.000 Rubel versprochen hätte (ca. 1.000 Euro). Seine Kameraden erklärten, dass man Anton anscheinend angeschwindelt habe, sie würden nicht mehr als 30.000 (ca. 600 Euro) bekommen.

„Wir fahren in den Krieg“

Der wahrscheinlich gefallene Robert Arutjunjan und Anton. Im Gebiet Rostow.

Anton rief fast jeden Tag zu Hause an. Anfang Juni erklärte er plötzlich: „In der Einheit fragen sie, wer freiwillig in die Ukraine möchte“.

Ich sagte ihm: „Ich hoffe sehr, Du nicht?“- „Bin ich ein Blödmann? Keiner hier möchte“. Mit ihm zusammen ging noch einer von unseren Jungs, er landete auch in Tschetschenien, in Schali. Er hat mir später erzählt, dass man ihnen in der Einheit auch gesagt habe: „Wenn ihr ein paar Tage in der Ukraine ausharrt, dann bekommt ihr 400.000 Rubel (ca. 7.000 Euro). Natürlich willigte niemand ein, denn selbst wenn man überlebt hätte, hätte man sie mit dem Geld sowieso betrogen.

Dann schrieb Anton seiner Mutter, dass man ihn in die Nähe von Rostow-Don schicke. An der russisch-ukrainischen Grenze trafen die Soldaten der Einheit Nr. 27777 nach seinen Worten am 11. Juli ein. Jelena Petrowna machte sich keine Sorgen: „In Rostow ist es warm, die Ukraine ist weit entfernt, bei Anton ist alles gut.“

Was heißt denn gut? Ich frage ihn: „Was habt ihr gegessen?“ – „Fertignudeln-‚Doschirak‘“ – „Und was ist mit der Feldküche?“- „Es gibt keine. Nur Trockennahrung“.

Elena Petrowna empört sich noch lange darüber, dass die Jungens so schlecht ernährt wurden, sie Wind und Wetter ausgesetzt waren. Es scheint, sie klammert sich an den Gedanken, ihr Sohn habe gehungert. Ihn sich tot vorzustellen, das kann sie nicht.

Antons Verlobte, die 17jährige Nastja (Anastasia) Tschernowa, erzählt über diesen seinen Monat im Rostower Gebiet ganz anders. Ebenso wie Elena Petrowna mit einem Trauerschleier im Haar sitzt sie auf dem Sofa gegenüber von Antons Bild: klein, sehr zierlich, mit langen blonden Haaren, ganz in Schwarz („Ich kann nichts Buntes tragen, rein physisch kann ich es einfach nicht“) und während des ganzen Gesprächs hebt sie kein einziges Mal ihren Kopf.

Nastja hat jeden Tag mit Anton gesprochen, über den Militärdienst hat er ihr weitaus mehr erzählt als seiner Mutter. Am 23. oder 25. Juli hat er zum ersten Mal gesagt: „Wir fahren in den Krieg“. Die erschreckte Nastja fragte nur: „In der Ukraine gibt es doch keine Russen mehr?“ – „Wir fungieren als Aufständische“. Drei-vier Tage gab es dann keinen Kontakt.

Das zweite Mal, so erzählte Anton Nastja, wurden sie am 3. August in die Ukraine geschickt, für zwei Tage. Die Städte, die Dauer und Ziele des Marschbefehls nannte er nicht: Nastja vermutet, dass er es selbst nicht wusste. „Vermutlich als habe man sie nur einfach geschickt, um die Situation zu kontrollieren, dorthin zu fahren, zu schauen, zu beobachten“, sagt sie. „Man habe ihnen ukrainisches Geld gegeben, Anton hat erzählt, dass er in ein Geschäft ging und lachte: ‚Souvenirs gibt’s keine, aber ich kann so zumindest ukrainisches Geld Dir nach Hause bringen“. Als wäre von keinem Krieg die Rede. Nur so, vom alltäglichen Leben.“

„Werden zur Unterstützung der Aufständischen geschickt. Keine Sorge, alles wird tschiki (okay)“

Am 10. August rief Anton zu Hause an: „Mama, man schickt uns nach Donezk“.

„Ich antwortete: Wohin? Dort ist ja Krieg! Man darf euch nicht dahin schicken!“ Er: „Mama, das denkst Du so. Man schickt uns, den Aufständischen zu helfen. Keine Sorge, alles wird tschiki!“

Nastja sagte er noch, dass er in der Ukraine zwei-drei Monate sein werde, möglicherweise bis November, ohne telefonische Verbindung.

„Erst direkt vor seiner Abreise sagte er: „Ich will nicht fahren, wir überlegten es uns mit den Jungs, vom Transporter abzuspringen, doch es ist einfach zu weit bis zur Einheit, eineinhalb Tausend Kilometer“, erinnert sich Nastja. „Vielleicht ahnte er was… Die letzten Tage sagte er oft: „Haben nicht geheiratet, leider, habe keine Kinder, habe nichts …“ Das waren seine Pläne, seine Wünsche. …“

Am 11. August händigte man Anton zwei Handgranaten und 150 Schuss Munition für die Machinenpistole aus. Um 15:00 Uhr schickte er seiner Mutter über das Sozialnetzwerk „VKontakte“: „Diensthandy abgegeben, abgereist in die Ukraine“. Das war’s. …

„Ich kann es nicht verstehen: Wie konnten sie sie schicken?“, sagt die Mutter. „Es waren doch viele, 1200 Personen … Ich wusste nicht einmal, wen ich anrufen sollte, weder die Majore kannte ich, geschweige denn deren Telefonnummern… Wenn ich jemanden gekannt hätte, hätte ich gesagt: „Unterstehen Sie sich, ihn dorthin zu schicken! Ich hätte… Wenn ich gewusst hätte“.

Davon, was anschließend passiert war, erfuhren wir aus den Berichten zweier Kameraden Antons aus der Militäreinheit 27777, die mit seinen Dokumenten in Kosmodemjansk nach seiner Beerdigung eingetroffen waren. Einer von ihnen hinterließ Jelena Petrowna eine notariell beglaubigte „Erklärung“ mit Einzelheiten über Antons Tod. Später war er bereit, sich mit dem Mitglied des Menschenrechtsrats und Memorial-Vorstandsmitglied, Sergej Kriwenko, zu treffen, der seinen Bericht für eine Anfrage bei der Militärunteruntersuchungsbehörde niederschrieb.

Nach den Worten der Kameraden, erfolgte der Befehl, die Grenze zur Ukraine zu überschreiten, am 11. August. Wer sich weigerte, wurde vom Militärkommando beleidigt, beschimpft und mit Strafverfolgung bedroht. Alle Dokumente und Handys mussten auf Befehl abgeben werden, die reguläre Uniform gegen Tarnuniformen ausgetauscht, an der Militärtechnik die Nummernschilder und Erkennungszeichen zugemalt. Um die Hände und Beine wurden schmale weiße Bänder gebunden.

Elena P. Tumanov auf dem Grab ihres Sohnes

Später fand Frau Tumanow ein Foto ihres Sohnes mit solchen Bändern im Netzwerk „VKontakte“, versehen mit dem Kommentar seines Kameraden: „Erkennungszeichen für ‚unser‘ bzw. ‚fremd‘. Heute am Fuß, morgen am rechten Arm usw. Alle, die sich ohne Band bewegen: ausschalten.“.

In der Nacht des 12. August marschierte eine Kolonne von 1.200 Mann in der Ukraine ein und hielt auf dem Areal einer Fabrik in der Stadt Sneschnoje im Gebiet Donezk, 15 Kilometer von der Grenze entfernt. Die Transporter mit Waffen und Munition wurden eng beieinander aufgestellt. Am Tag des 13. August wurde die Kolonne von Grad-Raketenwerfern angegriffen.

„Die Jungens haben gesagt, dass von 1.200 Männern 120 getötet und 450 verwundet wurden“, sagt Frau Tumanowa. „Sie selbst waren irgendwo hinten, aber mein Anton vorne. Keine Gräben, kein Schutz… Panik brach aus, wer in einen Wagen, wer sonst wohin. Jeder versuchte sich zu retten, wie er gerade konnte…“

Kurz: Laut Schilderung von Antons Kameraden hat die Operation der siegreichen russischen Armee in einem fremdem Land ausgesehen wie folgt: Mit zwei Granaten pro Mann und ohne kampfbereite Militärtechnik marschierte eine Militärkolonne in die Ukraine ein, geriet unter Beschuss und kehrte innerhalb eines Tages mit 120 Leichen zurück.

„Hatten Sie den Befehl gegeben?“

Die Mitteilung über Antons Tod brachte der Mitarbeiter des Rekrutierungsbüros von Kosmodemjansk, Herr Budaew. „Er hatte damals Anton zum regulären Militärdienst eingezogen, er war es auch, der nun den Vertrag ausfertigte. Er brachte die Mitteilung – und weinte. Ich fragte nur: „Wo ist es passiert?“ – „Bei Lugansk“ – „Aber die sind doch nach Donezk geschickt worden“ – „Sind bis dahin nicht gekommen“. Er gab mir die Telefon-Nummer der Einheit, ich rief an und fragte „Vielleicht ein Fehler, nicht mein Sohn?“- „Nein, alles stimmt, die Jungs haben ihn gerade erst identifiziert.“ Beileidsbekundung und dergleichen …“

Seitdem hat niemand vom Militärkommando mit Jelena Petrowna gesprochen. Und sie hat nicht mehr angerufen. Sie weiß einfach nicht, wen.

„Warum ist das passiert? Wo? Sollen es ruhig sagen und nicht lügen. Vor allem möchte ich natürlich wissen, warum, wer hat den Befehl gegeben?! Denn der Befehl kann nur aus Moskau gewesen sein. Wenn Putin vor mir stehen würde, würde ich ihn genau das fragen: „Haben Sie den Befehl gegeben? Antworten Sie ehrlich“. Ich habe bis zum letzten Tag gedacht, dass es dort keine Russen gibt. Die Jungens aber sagen, dass es dort noch lange kein Ende gibt. Warum muss jemand dorthin gehen? Sollen sie doch selber zurecht kommen, wie es ihnen beliebt.“ Sie weint.
„Das geht doch schon seit Anfang des Jahres, oder sogar früher, nicht? Als sie die Krim angeschlossen hatten, habe ich Fernsehen geschaut und gedacht: Wozu in aller Welt brauchen wir das. Als wären wir hier nicht schon weit ab und vergessen genug, und da schließen wir noch jemanden an.

Anton hat anscheinend gar nicht daran gedacht. Er ging nicht, um zu kämpfen, sondern um zu arbeiten.“

Auf Bitte von Jelena Petrowna helfe ich ihr, einen Appell an Menschenrechtler zu schreiben, nehme ihn mit nach Moskau.

„Ich bekam eine Art Panik. Ich will, dass die Menschen wissen, dass unsere Jungs kämpfen. Obwohl es in Moskau vielleicht alle auch ohne uns wissen?“, fragt sie sehr ernst. Ich senke meinen Kopf und sage nichts. Ich rufe die Soldatenmütter an, und sie gleich: „Ja, die 18. Brigade? 120 Tote, wissen wir“. Das heißt, ich bin nicht die Erste, die sie anruft. Sie fragen mich: „Hast Du keine Angst, das man Dich dann … Du weißt schon was…?“ „Ich habe keine Angst.“, sage ich…

Frau Tumanowa hat über den Tod ihres Sohnes auf der Homepage des Netzwerks „Odnoklassniki“ (Klassenkameraden) berichtet. Als Antwort erhielt sie Dutzende bösartiger Bemerkungen darüber, dass sie lüge, das Vaterland verunglimpfe und PR mache. „Eine schrieb: „Hast Du keine Angst, dass dich nachts der Teufel holt…?“ Ich dachte, sie ist irgendwie seltsam, obwohl sie auf dem Foto recht normal aussieht“.

„Möchten Sie, dass man für Antons Tod jemanden bestraft?“, frage ich sie.
„Mir ist es, ehrlich gesagt, gleichgültig, ob jemand seinen Posten verliert oder nicht. Mir ist es völlig egal. Ich möchte nur verstehen: Warum hat man ihn dorthin geschickt, wer hat das gemacht? Allein für mich. Nur ist es sehr schwer, dass sich jemand traut zu reden.

Der Friedhof

Im unteren Teil von Kosmodemjansk, näher hin zur Wolga, stehen alte geschwärzte Blockhäuser. Bunte Borten, Palisaden, Boote im Hof. Sieht aus wie ein großes Dorf. Nicht so, dass es sehr deprimierend wäre – eigentlich wie überall. Vom Haus bis zum Friedhof sind es 15 Minuten zu Fuß. Auf dem Weg finden wir Pilze direkt an der Straße, kaufen auf dem leeren Markt welkende Dahlien und Astern.

„Warum kämpfen sie?“ Nicht nur rein rhetorisch, fragt mich Jelena Petrowna, stolpert auf dem gerissenen Pflaster. „Wegen des Territoriums, was? Wer braucht es? Ich kann diese Politik einfach nicht verstehen… Davor dachte ich manchmal: Wer kämpft dort? Wenn man ständig berichtet, es wurden soundso viele Aufständische getötet – wie viele sind noch von ihnen übrig? Anton war bereits in der Nähe von Rostow und ich hatte immer noch so gedacht. So wie es bei uns einige eben sehen. Der Zweite Weltkrieg ist bis zu uns nicht vorgedrungen und auch dieser Krieg kommt nicht bis zu uns. …Dass man aber die Männer einziehen würde, dass versteht man einfach nicht.“

Zwischen den alten, längst nicht mehr umsorgten Grabstätten mit Fotos ernster alter Frauen mit Kopftüchern sticht Antons Grab sofort heraus. Plastikkränze von Verwandten und dem Militärkommissariat, eine Flasche mit frischen Feldblumen, das Foto – er in Militäruniform. Jelena Petrowna verteilt Süßigkeiten auf dem Grab: „Leckere, mit Rosinen, heute gekauft“, entfernt die nach dem Begräbnis kaum verwelkten Blumensträuße. Bekreuzigt sich. Weint.

„Zur Beerdigung kamen sehr, sehr viele Menschen. Von der Militärbehörde brachten sie ein Militärorchester aus Joschkar-Ola mit. Diese Jungs, die vom Orchester, die immer Soldaten beerdigen. Die haben mir gesagt, dass Anton nicht der Erste aus unserer autonomen Republik Mari El ist, der dort gefallen ist.“

Die aus der Militäreinheit 27777 angereisten Soldaten haben Elena Tumanowa erzählt, dass sie auf dieser ihrer Dienstreise Dokumente für drei Familien von Gefallenen bei sich haben, für jeweils in Kosmodemjansk, Kasan und Marinskij Posad.

Ein Kamerad von Anton hat in „VKontakte“ ein Foto gestellt, das Anton mit einem anderen lächelnden Kameraden zeigt. Darunter: „Robert Martunowitsch Arutjunjan, Anton Tumanow. Helden, gestorben in Ausübung ihrer militärischen Dienstpflicht.“ In den Kommentaren: die Frage nach ihrer Einheit und dem Ort des Todes. Antwort: „Technische Nachrichtengruppe der Motschützenbataillons. Sneschnoje, in einem der osteuropäischen Länder.“ „Und was haben sie in Osteuropa gemacht?“ als nächste Frage. Antwort: „Wir haben einen Befehl ausgeführt. In Funktion von Aufständischen. Übrigens hat man mich durch Fallschirmjäger der Landetruppen aus Pskow ausgewechselt, die angeblich auch nichts im Süd-Osten Europas zu suchen haben.“ [Anmerkung IGFM: Genau in dieser Luftlandegruppe sind anscheinend weitere 80 Soldaten in der Ostukraine gefallen und wurden geheim beerdigt.]

Loslassen

„Wir müssen ihn loslassen. 40 Tage sind dafür gegeben. Man sagt, wenn wir weinen, geht es ihm dort schlecht. Wir dürfen nicht weinen“, sagt Jelena Petrowna. Wir sitzen in der Küche, Frau Tumanowa versucht, uns und Nastja ein Mittagessen zu richten, schneidet großzügig dicke Wurstscheiben ab. Nastja rührt mit abwesendem Blick im Tee.

Als ich ihn das letzte Mal angerufen habe, hatte er keinen Cent mehr fürs Telefonieren, erinnert sich Jelena Petrowna. Ich sagte: „Nun, dann werde ich jetzt auflegen.“ Er: „Nein Mama, nicht auflegen. Wenn ich zurückkomme, ruf ich Dich an und dann legst Du auf.“ Können Sie sich das vorstellen?“ Sie weint.

Zur gleichen Zeit wie ich kommt ein Journalist von „Rote Stadt“ aus Joschka-Ola zu Frau Tumanowa. Beharrlich fragt er, ob Anton Sport getrieben hat, er gut in der Schule war. Offensichtlich schreibt er ein Heldenporträt. „Nein, nicht wirklich“, Jelena Petrowna zuckt leicht mit den Achseln. „In der Schule war er nicht sonderlich gut. Als er die Schule beendete, war es nicht so, dass es ihn irgendwo hin gezogen hätte. Er ging aufs Technikum, hat es aber nicht abgeschlossen.

Er sagte, um in der Fabrik zu arbeiten braucht man kein Technikum. Hochschulen gibt es in unserer Stadt nicht. Was er wollte, war Arbeit, ein Auto, eine Wohnung, heiraten. Nur mit der Arbeit hat es nicht funktioniert. …Obwohl, wissen Sie, ich habe ihn immer gern in Uniform sehen wollen und ihm selbst hat es gefallen zu Dienen.“

Vom Tod Antons weiß schon die ganze Stadt. Lächelnd erinnert sich Jelena Petrowna, wie viele Mädchen zu ihr kamen und sagten, wie sehr sie Anton mochten. „Ich hatte Angst, ihn tot zu sehen. Solange ich ihn nicht gesehen hatte, hatte ich es nicht geglaubt.“ Nastja schaut immer noch zu Boden. Sehr sorgfältig und ernst sucht sie nach Worten. Die Worte gehorchen ihr nicht, aber sie fährt fort, als müsse es unbedingt gesagt sein: „Wenn wir zusammen waren habe ich mich vor nichts gefürchtet. Eigentlich gab es mit ihm nichts, wovor man hätte Angst haben sollen. Er hat versprochen, wenn er zu Neujahr auf Urlaub kommt, dann heiraten wir. Ich habe gesagt, es ist mir zu früh, zu heiraten, aber wenn er mit einem Ring gekommen wäre, hätte ich auf keinen Fall nein gesagt. Ich fragte: „Warum so früh, …?“ Er: „Und plötzlich ist Krieg? Wir haben keine Kinder – dann können wir zumindest schon mal heiraten“.

Redaktion der Nowaja Gaseta: Wir möchten bemerken dass in gegebenem Fall sich die Militärbehörde anständig und menschlich verhalten hat.