Der Prozess gegen Memorial*: „Die fehlende Kennzeichnung als ausländischer Agent könne Depressionen in der Gesellschaft auslösen“

Im Prozess um die Auflösung des Menschenrechtszentrums „Memorial“* bestand die Staatsanwaltschaft darauf, dass die Menschenrechtsverteidiger Terroristen schützten, während die Verteidigung sich über die „Anwendung von Gummiparagraphen“ beschwerte.

Am 23. Dezember begann ein Verfahren zur Liquidierung der zweiten juristischen Person von Memorial – nicht mehr die historische Gesellschaft, sondern das Menschenrechtszentrum. Bei Beiden fordert die Staatsanwaltschaft die Auflösung.

Die Anklagen sind ungefähr die gleichen wie bei Memorial International * und sind in den gleichen allgemeinen Begriffen formuliert.

Die Staatsanwaltschaft erklärte, das Menschenrechtszentrum Memorial habe in grober Weise und wiederholt gegen das Gesetz verstoßen, in den Schutz der Gesundheit und des Wohlergehens der Bürger eingegriffen und es müsse zum Schutz deren Rechte liquidiert werden.

Gleichzeitig werden dem Zentrum eigentlich nur mehrere Fälle vorgeworfen, in denen die Kennzeichnung als „Ausländischer Agent“ nicht angebracht wurde. Für diese Fälle wurden sie bereits mit Hunderttausenden Rubel bestraft.

Anwälte prüften und verlangten, jeden Vorwurf aus der Anklage zu beweisen.

Welche Folgen es habe, dass irgendwo keine Kennzeichnung des ausländischen Agenten erfolgt ist, fragte Anwältin Maria Eismont die Staatsanwälte – schließlich seien es die Folgen, die die Verstöße erheblich und gravierend machen.

„[Wegen der fehlenden Kennzeichnung] wird ein großer Personenkreis die von Ihnen bereitgestellten Informationen nicht bewerten können“, antwortete der Staatsanwalt, „darunter auch diejenigen, die zur Bildung einer negativen öffentlichen Meinung über die Staatsstruktur und die aktuelle Regierung beitragen“.

„Habe ich richtig verstanden, dass es nicht verboten ist, sich eine negative öffentliche Meinung über den Staat zu bilden, wenn es diese Kennzeichnung gibt?“, sagte Grigorij Waipan, Anwalt von Memorial.

Die Staatsanwaltschaft stimmte zu – vorausgesetzt, dies geschieht auf der Grundlage zuverlässiger Informationen.

 Mangelnde Kennzeichnung als ausländische Agenten löse Depressionen in der Gesellschaft aus

Eismont ging zum nächsten Anklagepunkt der Staatsanwaltschaft über. „Inwiefern beeinträchtigt das Fehlen einer Kennzeichnung die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bürger?“, fragte sie.

Die Staatsanwaltschaft antwortete, es gehe um die psychische Gesundheit: „Die Bildung eines negativen Staatsbildes und das Fehlen von Kennzeichnungen, können unter anderem eine Depression bei den Bürgern auslösen.“

„Ist das Ihre Vermutung oder Tatsache?“ beharrte die Anwältin. „Wer hatte psychische Probleme?“

„Das ist unsere Position“, antwortete der Staatsanwalt.

Eine der schwierigsten Behauptungen gegen Memorial ist, dass das Zentrum vom Gericht verurteilte Extremisten und Terroristen als politische Gefangene anerkennt.

Die Liste der politischen Gefangenen von Memorial umfasst wirklich Mitglieder der verbotenen Bewegung Artpodgotovka ** und Zeugen Jehovas ** (in Russland als extremistische Organisation verboten) sowie Anhänger der islamischen Bewegung Hizb-ut-Tahrir. *** (in Russland als terroristische Organisation verboten).

So rechtfertigen Menschenrechtsaktivisten laut Staatsanwaltschaft Extremismus und Terrorismus.

„Es gibt einen großen Unterschied zwischen“ ich glaube, Vasija ist unschuldig, weil er nicht gestohlen hat“ und „Ich unterstütze Diebstahl“, widersprach die Anwältin Maria Eismont dieser Logik. Und sie erinnerte daran, dass Memorial niemanden als politischen Gefangenen anerkenne, der an Gewalt beteiligt war, selbst wenn die politische Verfolgung offensichtlich sei.

„Gibt es auf der Website des Memorial Human Rights Centers Materialien, die verboten oder als extremistisch anerkannt sind?“, fragte sie.

„Nein, gibt es nicht“, räumten die Vertreter der Staatsanwaltschaft ein.

Immer nur umgehende juristische Protokolle über Verstöße

Die Verstöße von Memorial seien grob und wiederholt, betonte die Staatsanwaltschaft: Dies sei auch die Grundlage für die Liquidationsklage.

Rechtsanwalt Grigorij Waipan argumentierte vor Gericht, dass beides nicht stimmte.

„Grobe Verstöße- beträfen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit“, begründete der Anwalt und betonte, dass das Vergessen der Kennzeichnung als ausländischer Agent eine Formalität sei, die die Sicherheit von niemandem verletzen könne. Der Staatsanwalt selbst habe eingeräumt, dass man mit der Kennzeichnung als ausländischer Agenten ohne Angst vor Strafen „ein negatives Bild von der aktuellen Regierung erzeugen darf“.

Er beanstandete auch den Anklagepunkt der „wiederholten Verstöße“. Tatsächlich gab es 2019 eine Lawine von Anklagen gegen gesellschaftspolitische Akteure wegen fehlender Kennzeichnung als ausländische Agenten. Aber bei Memorial wurde sowohl der Verein als juristische Person mit Geldstrafen belegt als auch deren Vorsitzende in persona. Auf das Menschenrechtszentrum „Memorial“ fielen lediglich vier Anklagen – davon seien zwei verjährt.

Die Anwältin Tatjana Gluschkowa erklärte erneut, dass sie beispielsweise in sozialen Netzwerken keine Kennzeichnungen als ausländische Agenten angebracht hätten, da das Gesetz nicht klar vorschreibe, wo diese Kennzeichnung stehen solle.

Ihr Kollege Grigorij Waipan erinnerte daran, dass alle Verstoß-Protokolle 2019 in kürzester erstellt wurden und zuvor niemand mit Memorial Kontakt aufgenommen und erklärt habe, wo die Kennzeichnung zu verorten sei. „Es gab nur eine Form der Erklärung, die uns erreichte – und zwar die der umgehenden juristischen Verstoß-Protokolle“.

„Die Verstöße stehen im Zusammenhang mit der Anwendung dieser Gummiparagraphen“, unterstützte der Leiter des Menschenrechtszentrums Alexander Tscherkasow die Anwälte. „Das Justizministerium hat das Gesetz 2016 so ausgelegt, der Roskomnadsor (Föderaler Dienst für die Aufsicht im Bereich der Kommunikation, Informationstechnologie und Massenkommunikation)  2019 anders und die Staatsanwaltschaft 2021 wiederum anders.“

„Politische Gefangene zu schützen bedeute nicht, ihren Ansichten zuzustimmen“, betonte Tsherkasow: „Genau dies ist die politische Verfolgung des Staates für Handlungen, die nichts mit Gewalt zu tun haben. Entscheidungen, bei denen Menschen terroristischer und extremistischer Verbrechen für schuldig befunden werden, können unrechtmäßig sein und können kritisiert werden.

Und am wichtigsten sei, dass politische Verfolgung nicht nur für die Verfolgten selbst, sondern für die gesamte Gesellschaft und den Staat schädlich sei. „Wir finden es sinnvoll, Listen mit politischen Gefangenen zu führen: Mit dem Hinweis auf diese Praxis tun wir etwas Wichtiges für das ganze Land.“

 

* – Die Organisation ist in Russland in das Register der Nichtregierungsorganisationen eingetragen, die die Funktionen eines ausländischen Agenten wahrnehmen

** – Die Organisation ist in Russland als extremistisch anerkannt und verboten

*** – Die Organisation ist in Russland als terroristisch anerkannt und verboten