Blick vom Camp “Stop Putin’s Terror” auf das Brandenburger Tor. Hier zu sehen Fotos von Dissidenten, auf die Anschläge verübt wurden. Bild: Michael Leh
„Wir müssen über die reale Lage in Russland informieren“
Interview mit IGFM-Vorstandsmitglied Michael Leh über das vierwöchige russische Demokratie-Camp am Brandenburger Tor in Berlin
Frankfurt/ Berlin, 11. Mai 2021 – Vier Wochen (9. April – 9. Mai) informierten in Deutschland lebende Angehörige der russischen Diaspora in Berlin in einem „Demokratie-Camp“ am Brandenburger Tor über die Menschenrechtslage in Russland. Am vergangenen Sonntag (9. Mai) fand die Abschlussveranstaltung mit einem Gottesdienst statt. In Diskussionsrunden, Video-Konferenzen, Vorträgen, Lesungen, Kunstaktionen und Vielem mehr informierte man im Camp interessierte Besucher über die autokratische Herrschaft Wladimir Putins und das Schicksal politischer Gefangener in Russland. Immer wieder wurde auch aktuell über die Lage des in einem Straflager inhaftierten Regimekritikers Alexej Nawalnys berichtet und seine Freilassung gefordert. Zu den Themen gehörte auch die Desinformations – und Propagandapolitik des Putin-Regimes im Ausland und die Beeinflussungsversuche gegenüber der deutschen Politik und Öffentlichkeit. Als Unterstützer des Camps war IGFM-Vorstandsmitglied Michael Leh stets mit dabei. Wir sprachen mit ihm über vier intensive Wochen im Camp und seine Motivation sich zu engagieren.
Herr Leh, gibt es in Russland politische Gefangene? Wie groß ist das Problem?
Selbstverständlich. Nawalny ist nur der prominentestete Fall. Das Problem ist gravierend. Alexander Alexejew von der Menschenrechtsorganistation Memorial geht von 383 politischen Gefangenen aus, die wahre Zahl dürfte aber noch viel höher liegen. Derzeit werden immer mehr Menschen aus politischen Gründen verfolgt und verhaftet. Russland ist kein Rechtsstaat. Zudem sind die Verhältnisse in den Gefängnissen und Straflagern verheerend. Viele sind dort unschuldig inhaftiert und viele haben außerdem völlig unverhältnismäßig hohe Haftstrafen erhalten. Häufig wird auf verschiedene Weise gefoltert und misshandelt.
Warum wird über diese Gefangenen, abgesehen von wenigen „Prominenten“ so wenig berichtet?
Das hat wohl mit einem Mangel an ernsthaftem Interesse an der wirklichen Lage der Menschen in Russland zu tun. Ignoranz und Desinteresse erleben wir Menschenrechtler ja auch nicht selten bezüglich anderer Länder, siehe z.B. Kuba. Oder nehmen wir China: Sogar der bis zu seinem Tod inhaftierte Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo war bei uns jahrelang praktisch „vergessen“. Bezüglich Russland besteht auf jeden Fall großer Aufklärungsbedarf. Die unter dem Putin-Regime leidenden Russen verdienen dabei unser Mitgefühl und unsere Unterstützung. Es wäre auch politisch höchst kurzsichtig, sich nicht näher mit den wahren Verhältnissen in Russland zu beschäftigen. Denn Putin ist mit seiner aggressiven Machtpolitik längst auch eine Bedrohung für seine westlichen Nachbarstaaten.
Was haben diese politischen Gefangenen „verbrochen“ ?
Wer politisch gegen Putin opponiert, steht schon mit einem Fuß im Gefängnis. Alexander Alexejew von Memorial weist darauf hin, dass viele nur verurteilt wurden, weil sie das russische Vorgehen gegen die Ukraine kritisierten, auf der Krim oder im Donezk-Becken. Es gibt Verfahren gegen kritische Wissenschaftler und Journalisten oder auch wegen kritischer Äußerungen in sozialen Medien. Aktuell werden die Mitarbeiter von Nawalnys Anti-Korruptionsstiftung FBK kriminalisiert und seine Anhänger als angebliche Extremisten gebrandmarkt. Schon die Teilnahme an einer friedlichen, aber nicht genehmigten Versammlung kann zur Verhaftung führen. So erging es etwa Ildar Dadin, der fünzehn Monate im Gefängnis und in einem berüchtigten Straflager in Karelien verbrachte und gefoltert wurde. Auf dem Berliner Camp habe ich aus seinem Buch „Der Schrei des Schweigens“ gelesen.
Welchen Einfluss hat die Politik von Präsident Putin auf die Menschenrechte ausserhalb Russlands?
Die Kriegstreiberei Putins allein in der Ukraine hat bislang schätzungsweise 13.000 Menschen das Leben gekostet. Warum muss u.a. die Bundeswehr im Baltikum mit präsent sein? Wegen Putin. Der Kreml zieht mit Mordanschlägen eine Blutspur durch Europa. Siehe zum Beispiel auch 2019 die Erschießung des Tschetschenen Selimchan Changoschwili im Berliner Tiergarten am hellichten Tag.
Was hat sie an die Seite der Camp-Aktivisten gebracht?
Bereits im September 2020 hatte ich Dmitrij Bagrasch kennengelernt, als er auf dem Mittelstreifen von Unter den Linden direkt gegenüber der russischen Botschaft sein Zelt für eine Woche für eine Anti-Putin-Aktion aufgeschlagen hatte. Das faszinierte mich sogleich. Ich schaute mir alles genau an, sprach auch dort, und seither blieben wir in Kontakt. Dann kamen Ende Januar die großen russischen Protestdemonstrationen nicht nur in Russland, sondern auch zwei mit hohen Teilnehmerzahlen auch in Berlin. Ich sprach auf beiden, am Brandenburger Tor und auf dem Potsdamer Platz sogar vor über 1000 Russen. Als einziger Deutscher übrigens. Dmitrij war mit vielen anderen Aktivisten beteiligt, von denen ich immer mehr kennenlernte. Bemerkenswert ist auch das Engagement vieler Frauen – fast wie bei den Belarussen. Es war für mich faszinierend, zum ersten Mal eine so große Zahl russischer Putin-Gegner in Deutschland bei Demonstrationen zu sehen. Ich habe mir alle Plakate, Transparente, Slogans usw. genau angesehen und sie mit Fotos dokumentiert. Alles war berechtigter und legitimer Protest. Ich habe diese meist jungen Russinnen und Russen dann unterstützt, wo ich nur konnte. Als der Plan für das vierwöchige Camp im April bekannt wurde, war es für mich klar, dass ich mich beteiligen werde. Mit Rat und Tat. Übrigens war ich der einzige Deutsche mitten im russischen Orga-Team, aber wir hatten sofort gegenseitiges Vertrauen. Es war mir eine Freude, insbesondere mit so vielen jungen idealistischen Russinnen und Russen zusammenwirken zu können.
Hat das Camp seine Ziele erreicht?
Auch ein vierwöchiges Protestcamp kann nicht gleich die deutsche Russlandpolitik ändern oder Putin in die Knie zwingen. Aber wir wurden wahrgenommen, in Berlin und in Moskau. Der russische halbstaatliche Fernsehsender „Perwy kanal“ (Erster Kanal, Channel One Russia), der eine große Reichweite hat, ritt sogar schon vor der offiziellen Eröffnung des Camps eine große Medienattacke gehen uns. Demagogisch und diffamierend. Auch von „Ruptly“, das zu RT gehört, wurden wir gefilmt. Der KGB wird pflichtgemäß ein Auge auf uns geworfen haben, die russische Botschaft ist ja auch nicht weit weg vom Brandenburger Tor. Die Deutsche Welle berichtete ebenso wie u.a. das russische Programm von Voice of America (VOA), der Deutschlandfunk, RBB, NZZ, dpa, ARTE, ukrainische Sender, und deutsche Tageszeitungen wie etwa der Berliner Tagesspiegel. Wir waren auch gar nicht zu übersehen – vier Wochen lang direkt am Brandenburger Tor! Und dort auch mit einem Schild „Putin ist ein Killer“ – aufgestellt von den Russen! Davor stand eine große Zahl von Plakatständern mit Fotos von Vergifteten und Ermordeten. Viele Besucher und Passanten betrachteten sie nachdenklich. Den meisten werden nur wenige der Namen vorher bekannt gewesen sein. Die Russinnen und Russen hier in Berlin haben mit großem Einsatz Enormes geleistet. Wir arbeiteten alle ehrenamtlich! Manche hatten sich dafür eigens Urlaub genommen oder kamen immer wieder nach ihrer Arbeit ins Camp, um mitzuhelfen. Aufgrund behördlicher Vorschrift, auch wegen der Sicherheit und der technischen Geräte musste auch nachts immer jemand im Zelt sein. Und das im kältesten April seit 40 Jahren! Vor allem Dmitrij Bagrasch hat darin geradezu heroisch ausgeharrt.
Wie beurteilen Sie die Aktivitäten von Kreml-Lobyisten wie Gerhard Schröder, Alexander Rahr u.a. in Deutschland?
Als degoutant. Professor Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn, ein exzellenter Osteuropa-Experte, nannte sie im Februar in einem Interview in der Fachzeitschrift „Osteuropa“ einen „Konvent der Weißwäscher und Weichspüler“ und „Putin-Höflinge“. Er nannte u.a. auch Matthias Platzeck und Oskar Lafontaine. Aus der Partei „Die Linke“ und der AfD kommen noch viele weitere Kreml-Advokaten hinzu.
Sehen Sie durch Putin Gefahren für die deutsche Demokratie?
Zweifellos. Das beginnt mit Cyberangriffen, Spionage, Einflussagenten und aktiver Desinformationspolitik in Deutschland. Auch der Verfassungsschutz bestätigt dies. Putin will Europa spalten und dafür Schwachstellen in unseren Demokratien ausnutzen.
Wie kann man Desinformation entgegentreten?
Etwa indem man z.B. „RT-Deutsch“ keinesfalls noch eine Fernsehlizenz gibt. Indem Politiker diesem Propagandasender keine Interviews geben und ihn dadurch hoffähig machen. Indem man aufklärt. Die EU versucht das übrigens auch mit einer eigenen mehrsprachigen Website „EU vs Disinfo“.
Welche Veranstaltung hat Sie in vier Wochen Camp am meisten beeindruckt?
Es gab so viele interessante Veranstaltungen zu ganz verschiedenen Themen – u.a. über die Korruption in Russland, die politische Verfolgung, über Brain Drain und Asylsuchende, Thementage zu Belarus, der Ukraine, Tschetschenien, der Krim, der Umweltverschmutzung u.v.m., dass es schwierig ist, hier nur eine Veranstaltung zu nennen. In besonders auch technischer Hinsicht faszinierte mich, wie gut uns die Live-Übertragung der Proteste und Forderungen für die Freilassung Nawalnys am 21. April aus Russland und anderen Ländern gelang. Die Live-Schaltungen nach u.a. Moskau, Washington, Denver, Bareclona, Mannheim, Stuttgart und Litauen – alles übertragen auf einer großen Video-Leinwand – wurden dabei geradezu professionell von Sarah Maria Sander und Daria Dudley moderiert. Das hätte der öffentlich-rechtliche Rundfunk kaum besser gemacht. Bei uns gab es allerdings die aktuelleren Informationen. Besonders berührt hat mich auch, dass Wladimir Pereversin bei meiner Lesung aus seinem 2019 auf Deutsch erschienenen Buch „Matrosenruhe“ über seine siebenjährige Haft in Putins Gefängnissen persönlich anwesend war. Die Lesung war meine Idee gewesen, und auch viele Russen kannten das wichtige Buch zuvor nicht. Ich empfehle es auch sehr allen Deutschen, die mehr über die Reaität in Russland erfahren wollen.
Zwei besondere Höhepunkte für mich gab es noch am Schluss: Am 8. Mai moderierte ich auf russischen Wunsch am Brandenburger Tor die öffentliche Videokonferenz – die auf großer Leinwand übertragen wurde – mit dem engen Mitarbeiter Nawalnys, Leonid Wolkow – er war aus Litauen zugeschaltet, da er mittlerweile in Russland mit Haftbefehl gesucht wird – sowie dem russischen renommierten Wirtschaftsprofessor Sergej Gurijev aus Paris und dem deutschen Osteuropaexperten Professor Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn. Das Thema lautete: „Welche Sanktionen und Handlungen der Bundesregierung sowie Unterstützung der russischen Diaspora werden benötigt?“ Eine besondere Freude war für mich auch der ökumenische Gottesdienst zum Schluss des Camps mit Pastor Kai Feller. Ihn kannte ich von seinem Engagement für Belarus und er kam dankenswerterweise eigens aus Ratzeburg zu uns. Sarah Maria Sander und ich trugen abwechselnd auf Deutsch und Russisch Fürbitten für die politischen Gefangenen vor, und Sarah sang während des Gottesdienstes herzergreifende russische und jüdische Lieder. Der prominente Meistergeiger Misha Nodelman musizierte.
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