Russland, Inguschetien. Seit über 2 Jahren sind diese zivilgesellschaftlichen Akteure in Untersuchungshaft und benötigen dringend Unterstützung.  Hier ein ausführlicher Hintergundbericht.

Brennpunkt Nordkaukasus, Inguschetien, Hintergrund

Kolonialzeitliche Völkervielfalt auf der hochgebirgigen Landenge zwischen Asien und Europa

INGUSCHETIEN ist die kleinste Teilrepublik der Russischen Föderation mit nur ca. 400 000 Einwohnern, zu fast 100 Prozent ethnische Inguschen. Es gehört zum russischen Föderationskreis Nordkaukasus, der sich aus 6 autonomen Teilrepubliken und der Region Stawropol zusammensetzt.

Die Region des Nordkaukasus ist im Westen weitgehend unbekannt, noch weniger das kleine Inguschetien. Oft kennt man das Gebiet heute nur als „schwieriges“ russisches Epizentrum islamistischen Terrors im Zusammenhang mit den benachbarten Tschetschenienkriegen (1994-96, 1999-2009).

Schwierig nicht zuletzt, da sich auf der hochgebirgigen Landenge zwischen Asien und Europa im Laufe von vielen Jahrhunderten, innerhalb der Ausbreitung kolonialer Großmächte wie Persien, osmanisches und später russisches Reich, eine Vielzahl an Ethnien und kleinen Völkern entwickelt hat.

Die Geschichte des Nordkaukasus ist voll von willkürlichen Grenzziehungen der Großmächte, von deren An- und Umsiedelungspolitik, von traumatischer Flucht, Vertreibung und Deportation einzelner Bevölkerungsgruppen sowie ganzer Völker.

Noch heute gibt in Dagestan, der südlichsten und größten der 6 Nordkaukasusrepubliken mit ca. 3 Millionen Einwohnern, ungefähr von der Größe Niedersachsens, 12 Amtssprachen sowie über 30 Sprachen mit wiederum jeweils eigenen Dialekten.

Das inguschische Volk wiederum gliedert sich bis hin in kleinste Familienverbände (Teips), die ihnen seit Frühbeginn der kolonialbestimmten Siedlungsgeschichte bis heute (ca. 350 Teips) Schutz, Loyalität und Verteidigung boten und so zum Überleben des kleinen Volkes beitrugen.

Islamisch geprägt, doch nicht vereint

Obgleich der stetigen jahrhundertelangen islamischen Ausbreitung von Süd nach Nord aus dem osmanischen und persischen Reich, kam es auf dem Gebirgstegel zwischen Orient und Okzident mit so vielen kleinen Völkern, Ethnien und Familienverbindungen, mit der stetigen Konkurrenz zum Christentum und vorherrschenden Naturreligionen sowie mit den gebirgstypischen guten geographischen Abgrenzungsmöglichkeiten, zu keinem größeren islamisch-kaukasischem Staatengebilde.

Verschärfte Kolonialpolitik Russlands erzeugt kampfbereite Widerstandsbewegung

Dies geschah erst im 19 Jhd unter dem Sufi-Imam Schamil als das Russische Zarenreich der strategischen Bedeutung des Kaukasus mehr Gewicht beimaß. Mit dem zunehmenden Druck aus dem russischen Reich entwickelte sich unter den Sufi-Gemeinden verschiedener Ethnien eine kampfbereite Widerstandsbewegung, die zuletzt von Imam Schamil angeführt wurde und die in die russische Geschichte als Kaukasuskrieg (1817-1864, mit geschätzt bis zu 15 000 im Schlachtfeld getöteten russischen Soldaten und bis zu gesamt 100 000 russischen Todesopfern) eingegangen ist. Schamil kapitulierte letztlich, die Kämpfe waren brutal und erforderten viele Todesopfer (weit höher als die russischen, doch schwer zu schätzen), die Russen waren in der Übermacht, die Bevölkerung war am Boden, uneinig und kriegsmüde.

Friedliebende Inguschen

Nur wenige Inguschen beteiligten sich an diesem Krieg, hier fanden sich mehr Anhänger des nordkaukasischen Scheichs Kunta Haddschi, der im Gegensatz zu Schamil für eine asketische, weltentsagende Form des Sufi-Islam stand und gegen den Krieg mit Russland appellierte, solange man Religion und Bräuche ausüben dürfe.

Volksvertreibungen des Russischen Zarenreichs

So waren die Inguschen kaum von der darauffolgenden großen Zwangsaussiedlung seitens der russischen Siegermacht betroffen. Diese entwurzelte bis zu geschätzt über eine Million Kaukasier, wobei viele Zehntausende ums Leben kamen. Vor allem betroffen war fast das gesamte Volk der Tscherkessen, die bis heute diese Vertreibung als Völkermord bezeichnen, den bspw. das südkaukasische Georgien 2011 als solchen offiziell anerkannt hat. Aber betroffen waren bspw. auch einige Tausend tschetschenische Großfamilien, die etwa 10 Prozent des mit den Inguschen verwandten Nachbarvolkes ausmachten.

Volksvertreibung unter Stalin

Wie unzählige Ethnien und Völker des Ostens, die sich mit dem Zerfall der alten Weltordnung Ende des Ersten Weltkrieges als eigener Staat aufstellen wollten, wurde auch der Kaukasus von der Roten Armee „übermannt“ und unter dem Vorzeichen einer neuen politischen Weltordnung in das größte Staatengebilde der Welt, der Union sozialistischer Sowjetrepubliken einverleibt. Unter Federführung des großen (südkaukasischen) Sowjetdiktators Josif Stalin wurden sämtliche neue Grenzen gesetzt, wobei der Südkaukasus in drei eigenständige Sowjetrepubliken (mit der Sonderregelung Karabach) eingeteilt und der Nordkaukasus (beide Gebiete in etwa halb so groß wie Deutschland) der russischen sozialistischen Sowjetrepublik untergeordnet wurde.

Die Inguschen (ca. 90 000) wurden 1944 unter Stalins Terror zusammen mit den Tschetschenen (ca 400 000) kollektiv als angebliche Nazi-Kollaborateure nach Kasachstan deportiert. Die Leitung der Deportation übernahm der (südkaukasische) berüchtigte NKWD (terroristischer Geheimdienst der damaligen UdSSR) Chef Berija selbst vor Ort. Fast eine halbe Million Menschen wurden in weniger als einer Woche brutal entwurzelt, Flüchtige erschossen, Menschen bei lebendigem Leib verbrannt. Fast ein Drittel starb nach inguschetischen Schätzungen nach der Deportation in Mittelasien infolge der dortigen extremen Lebensbedingungen.

Heimkehr der Inguschen

Erst 13 Jahre später wurden sie rehabilitiert und durften in ihre Heimat zurückkehren. Ihr Heimatland war unter den benachbarten Republiken aufgeteilt worden und nach ihrer Rückkehr blieb ein Herzstück Inguschetiens (mehr als ein Viertel), der „Prigorodnij Bezirk“, bei dem westlich angrenzenden Nordossetien und seither besteht bei den Inguschen die Forderung nach Rückgabe dieses Territoriums.

Prigorodnij Konflikt

Dieser territoriale Konflikt ging mit dem Zerfall der Sowjetunion 1992 in einen offenen Krieg über, nicht zuletzt, weil der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Inguschen im Herbst 1990 bei einem Auftritt in Nasran mit einem neuen Gesetzesentwurf große Hoffnungen gemacht hatte, die er dann nicht einhalten konnte und zwei Jahre später den Ausnahmezustand erklärte und eine 10 000 Mann starke Interventionstruppe entsendete, die den Krieg nach 10 Tagen beendete. Dennoch folgten noch viele Jahre zahlreiche Auseinandersetzungen, die Hunderte von Menschenleben auf beiden Seiten forderten sowie viele Zehntausende Flüchtlinge, insbesondere Inguschen (laut inguschetischen Angaben 70 000), zur Folge hatten. Erst 2005 beendete Jelzin den Ausnahmezustand, Prigorodnij blieb bei Nordossetien. Die Forderungen nach Rückgabe seitens der Inguschen bestehen noch heute.

Sowjet-säkularisierte Gesellschaft

Extremistische islamistische Konflikte mit kriegerischen Auseinandersetzungen sind für die Zeit der 70 Jahre währenden Sowjetunion nicht bekannt. Der vorherrschende weltentsagende Sufi-Islam sowie die repressive Religionspolitik der Sowjetunion hatten in der Breite eine säkularisierte Gesellschaft geschaffen.

Aufbruchsstimmung in die eigene Identität

Dies änderte sich mit dem Zerfall der Sowjetunion als fast plötzlich „Unabhängigkeit“ zum Wort der Stunde wurde. Doch während alle eigenständigen sozialistischen Sowjetrepubliken (11 ohne Baltikum), wie auch die 3 des Südkaukasus umgehend diese Unabhängigkeit rechtlich umsetzen konnten, so galt die nicht für den der russischen sozialistischen Sowjetrepublik zugeteilten Nordkaukasus.

Friedliebende Inguschen

Während sich die Inguschen, die zusammen mit den Tschetschenen in die Tschetschenisch-inguschische autonome sozialistische Teilrepublik der russischen Sowjetrepublik waren, weiterhin der postsowjetischen Russischen Föderation unterordneten, erklärte Tschetschenien einseitig seine Unabhängigkeit.

Der Putin-gepuschte Aufstieg des islamistischen Diktators Ramsan Kadyrow im benachbarten Tschetschenien

Der somit eröffnete Separationskonflikt mit Russland zog nun infolge immer mehr radikale Islamisten aus der Region sowie aus dem Ausland an. So auch den Mufti von Tschetschenien Achmat Kadyrow, der 1994 zum Dschihad gegen Russland aufrief. In den nächsten 15 Jahren folgten zwei alles zerstörende Kriege mit brutalsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit (auf beiden Seiten) mit insgesamt bis zu geschätzten 200 000 Todesopfern, darunter zum Großteil Zivilisten sowie vielen Hundertausenden tschetschenischen Flüchtlingen.

Der Großteil floh ins benachbarte Inguschetien. Zu Beginn 2000 waren es hier um die 250 000 Kriegsflüchtlinge, vor allem Frauen und Kinder, die zumeist privat von den damals ca. 340 000 Inguschen aufgenommen wurden.

Für Terror und Gräueltaten berüchtigt geworden war vor allem der tschetschenische Mufti Achmat Kadyrow, der zum Dschihad gegen Russland aufgerufen hatte und dessen Leibgarde, die „Kadyrowzi“ als dschihadistische Todesschwadronen Angst und Schrecken verbreiteten.

Mit Beginn von Vladimir Putins Amtszeit als russischem Ministerpräsidenten 1999 und dem Zweiten Tschetschenienkrieg machte Kadyrow eine 180 Grad Wende und kämpfte mit seinen Kadyrowzi auf Seiten Russlands, mit dessen Unterstützung er 2000 zum Verwaltungschef Tschetscheniens ernannt wurde, 2001 zum Chef der lokalen Rosneft (russischer Ölkonzern) Vertretung und schließlich 2003 zum Präsidenten der russischen Föderationsrepublik Tschetschenien gekrönt wurde.

Nach dem tödlichen Bombenanschlag auf Achmat Kadyrow 2004, setzte der russische Präsident Vladimir Putin auf seinen Sohn Ramsan Kadyrow und ebnete seinen Weg für die Nachfolge seines Vaters als Präsidenten Tschetscheniens.

Ruhe durch Kadyrows Todesschwadronen, die „Kadyrowzki“

Mit der persönlichen Übernahme der Leibgarde seines Vaters, bestehend aus geschätzt 2000 professionellen dschihadistischen Kämpfern und der vollen russischen Rückendeckung brachte Ramsan Kadyrow für Putin 2009 letztlich den Sieg über das islamistische Epizentrum Russlands ein. Der Teufel war mit dem Beelzebub ausgetrieben worden und der Beelzebub zählt für Putin bis heute als Garant für eine gewisse Ruhe in der nordkaukasischen Konfliktregion.

Tatsächlich hat sich die Zahl von Terrorakten in der Region deutlich verringert. Doch baut Kadyrow vor allem mithilfe seiner ihm persönlich unterstehenden Terrortruppe in Tschetschenien innerhalb der Russischen Föderation und unter deren Duldung eine islamistische Diktatur mit Führerkult auf.

Homoehe in der Russischen Föderation verfassungsmäßig verboten, Viel- und Frühehe im benachbarten Föderationssubjekt Tschetschenien des Föderationskreis Nordkaukasus, erlaubt, zumindest offenen Auges geduldet

Während in Russland in der neuen Verfassung die Homoehe verboten wird, erklärt Kadyrow öffentlich, dass er die Polygamie in der Landes-Verfassung verankern möchte. Auch die Frühehe ist für ihn kein Problem. Die Frauen haben sich zu in bunten Hijabs zu bedecken, sind Eigentum der Männer. Jegliches Aufkeimen von Widerstand wird in der Bevölkerung wird mit brutalsten Mitteln im Keim erstickt (Folter, Ermordung, Hinrichtung, Sippenhaft).

Zeit für Kadyrows proklamierte Wünsche nach erweiterten Landesgrenzen

Und während der putinsche Statthalter Ramsan Kadyrow somit die Lage in Tschetschenien im Griff hat, kann er jetzt lang gehegte Wünsche der „Nachbesserung“ von Grenzlinien mit dem benachbarten Dagestan und Inguschetien angehen, die damals unter Stalin mehrfach verändert wurden.

Landnahme beim benachbarten Inguschetien: Nacht- und Nebelaktion

Dass für dieses Vorhaben die betreffende Bevölkerung zumindest informiert werden sollte, liegt längst außerhalb seines Vorstellungsvermögens und so stellten einige inguschische NGOs Ende August 2018 eher zufällig fest, dass dieses Vorhaben in vollem Gange ist, als tschetschenische Bauarbeiter auf inguschetischem Grenzgebiet, einem vom Ministerium für natürliche Ressourcen und Umwelt der Russischen Föderation ausgewiesenen Naturschutzgebiet, mit Baumfällarbeiten für den Straßenbau zugange waren. Auf Nachfragen erklärte ein Pressesprecher Tschetscheniens, dass hier eine kriegszerstörte Straße wiederaufgebaut werde, auf der beide Länder fahren dürften. Seitens der inguschetischen Regierung blieb eine Antwort aus.

Inguschetien leistet zivilen Widerstand und warnt vor totalitärem Sog aus dem Nachbarland

Ungeachtet beginnender Proteste der inguschetischen Bevölkerung schlossen Ramsan Kadyrow und der 2008 von Russland ernannte Präsident Inguschetiens, Junus-bek Jewkurow das Abkommen über die neuen Grenzverlegungen am 26. September 2018 ab. Jewkurow, teilte mit, sie hätten im Abkommen gleichwertiges Land ausgetauscht.

Nach einem unabhängigen kartographischen Institut und allen bisherigen Kenntnissen, gibt in dem Abkommen allerdings Inguschetien 26 800 ha ab und erhält von Tschetschenien im Austausch 1000 ha. Die kleinste russische Teilrepublik, die schon nach der Rückkehr aus der Stalinschen Deportation ein Viertel ihres Heimatlandes verloren hat, schrumpft somit um weitere 7 Prozent.

Die Proteste der inguschischen Zivilbevölkerung gegen das Abkommen setzten sich fort.

Stark kritisiert wurde der inguschetische Präsident Jewkurow, er hätte die eigene Bevölkerung darüber informieren müssen und nicht im Alleingang ein solch wichtiges Abkommen mit Kadyrow abschließen dürfen. Viele forderten seinen Rücktritt.

Gemeinsam mit dem inguschetischen Verfassungsgericht wurde nach Artikel 111 das Abkommen als nicht rechtmäßig erklärt, da in solchen Fragen die Meinung der Bevölkerung eingeholt werden müsse und es wurde ein Referendum diesbezüglich eingefordert.

Auf den folgenden Kundgebungen Anfang Oktober 2018 mit vielen Zehntausenden Teilnehmern, sprachen der erste Präsident Inguschetiens (1993-2001) Ruslan Auschew, der ehemalige Innenminister Inguschetiens, Achmed Pogorow (2002-2003), der Vorsitzende des Rates der inguschischen Teips, Vertreter des Inguschischen Komitees für nationale Einheit und viele weitere Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft.

Kadyrow droht den Organisatoren des Protests persönlich

Kadyrows Empörung über die Redner kam unter anderem in einer erweiterten Ministerkonferenz am 16. Oktober in Grosny zutage, wo ein Ausschnitt in den abendlichen Fernsehnachrichten zu sehen war. Hier sprach er konkret nur die Organisatoren der Kundgebung an, sie sollten, wenn sie echte Männer seien, diese Kundgebungen auf dem jetzt ihm gehörenden Land machen und sollten dort behaupten, es würde ihnen gehören. Es wäre nur fraglich, ob diese Ehrenmänner dann den Platz wieder auf eigenen Beinen verlassen könnten.

Insbesondere drohte er dem ehemaligen inguschetischen Innenminister Pogorow, der der eine Reihe nicht korrekter Aussagen in seine Richtung gemacht habe, für die er persönlich bei ihm und seiner Familie „nachfragen“ würde.

Wie so eine „Nachfrage“ bestenfalls ausgehen kann, zeigt sein spätabendlicher „Besuch“ bei einem Teip-Ältesten in dem inguschetischen Dorf Surchachi am 16. Oktober 2018, weil dieser ihn als „Hirten“ bezeichnet hatte, wo er in einer Wagenkolonne von mehreren Dutzend Autos und bewaffneten Wachen erschien und die Sache traditionell im persönlichen Gespräch mit gegenseitiger Verzeihung bereinigte.

Weitere persönlichen Besuche erhielt bspw. auch der Vorsitzende des Protestkomitees Achmed Barachoew in seinem Dorf Neu-Redant, den am 24.10. gegen 22.00 der tschetschenische Parlamentsvorsitzende Magomed Daudow aufsuchte und ihm ausrichtete, dass Ramsan Kadyrow ihn und den ehemaligen Innenminister Pogorow zum Scharia-Gericht nach Tschetschenien einlade. Zwei Tage später erschien eine ganze tschetschenische Delegation mit Kadyrow bei Pogorow im inguschetischen Städtchen Karabulak. Auch hier wurde angeblich eine traditionelle Versöhnung mit Gebet erreicht.

Von Putin ernannter inguschetischer Präsident Junus-bek Jewkurow gegen das Volk der Inguschen

Dennoch hatte sich in der Grundeinstellung der Inguschen zum Thema keine Akzeptanz für das neue Grenzabkommen eingestellt. Am Tag des Welt-Kongresses des Ingusch Volkes, dem 30. Oktober 2018, an dem sich einige Hunderte Vertreter der Ingusch aus nah und fern in Nasran (größte Stadt Inguschetiens mit etwas über 100 000 Einwohnern) tagten, fiel auch die offizielle Entscheidung des inguschetischen Verfassungsgerichts, die das Abkommen als verfassungswidrig erklärte. Die Entscheidung wurde von den Kongressteilnehmern bejubelt.

Während ganz Inguschetien jubelte, stellte der eigene Präsident Jewkurow die Zuständigkeit des inguschetischen Verfassungsgerichts infrage und legte das Abkommen am 8. November dem russischen Bundesverfassungsgericht vor. Dies entschied am 6. Dezember 2018, dass das Abkommen rechtmäßig sei und auch ein Referendum nicht notwendig. Der inguschetische Präsident erklärte, damit sei jetzt ein Punkt daruntergesetzt und Kadyrow erklärte, dass Inguschen und Tschetschenien weiterhin brüderlich miteinander blieben.

Doch die Inguschen wollten keinen Punkt unter das Abkommen machen und warnten vor dem totalitären Sog aus der brüderlichen Nachbarrepublik. Sie nahmen ihre Proteste wieder auf und wie zuvor achteten die Organisatoren streng darauf, dass die Proteste im rechtlichen Rahmen und friedlich durchgeführt wurden.

Friedliche Inguschen

Jede Kundgebung wurde angemeldet, genehmigt, die Sprecher, allesamt hochgebildete und langjährig für das Gemeinwohl engagierte Personen, machten immer wieder ganz bewusst darauf aufmerksam wie wichtig es ist, friedlich zu demonstrieren. Es wehte die inguschische und russische Flagge, man betete gemeinsam, niemand war bewaffnet oder maskiert, es wurden keine Verkehrswege oder ähnliches blockiert, – die traditionell bedingt zum Großteil älteren männlichen Teilnehmer stachen geradezu hervor in ihrem gesitteten Protest.

Kundgebung vom 27. März 2019 – Stein und Stuhl des Anstoßes für folgenschwere Verhaftungswelle der Russischen Föderation

Bis zum 27.März 2019 in Magas, der von der russischen Föderation 2000 ernannten Hauptstadt Inguschetiens mit unter 3000 Einwohnern, in unmittelbarer Nähe von Nasran. Die für mehrere Tage angemeldete Kundgebung auf dem Platz vor dem inguschetischen Fernsehsender war vorerst nur für den 26.3. bis 22.00 Uhr genehmigt worden. Bis zu geschätzten 40 000 hatten sich an diesem Tag versammelt, alles verlief wie immer friedlich. Man forderte den Rücktritt des Präsidenten, erkannte das Grenzabkommen nicht an. Doch blieben viele Teilnehmer über Nacht oder fanden sich zum Morgengebet wieder ein.

Und genau zum heiligen Morgengebet befahl der stellvertretende Innenminister Inguschetiens Michail Poleschtschuk, der noch nicht lange zuvor als Polizeioberst die Abteilung für Extremismusbekämpfung in Sibirien leitete, die Menge auseinanderzutreiben.

Die Rolle des Experten für Extremismusbekämpfung der Russischen Föderation Michail Poleschtschuk bei der Auflösung der Kundgebung

So kam es plötzlich zu kurzen Tumulten und einige Teilnehmer, vor allem Jüngere, griffen zu den umstehenden Stühlen oder umliegenden Steinen und warfen sie gen Polizei. Hierbei wurden 67 Polizisten verletzt, darunter 3 schwer, jedoch nicht lebensgefährlich.

Achmed Pogorow, der ehemalige Innenminister und promovierte Jurist, erklärte schon kurz nach der aufgelösten Kundgebung, dass dieses Unglück geradezu von Poleschtschuk provoziert worden sei. In einem späteren offenen Brief an die zuständigen russischen Bundesbehörden, in dem er eine rechtliche Überprüfung der Geschehnisse fordert, begründet er diesen Vorwurf anhand des Gesetzes für die Verfahrensweise der Aussetzung und Beendigung öffentlicher Veranstaltungen und führt nachweislich auf, dass der russische Extremismus-Experte zu keiner Zeit verantwortungsgemäß zur Deeskalation der Konfliktsituation beigetragen hat, sondern im Gegenteil.

Ehrbare Organisatoren des friedlichen zivilen Widerstands gegen die Landnahme Kadyrows bis heute in russischer Untersuchungshaft

Und es ist doch genau diese kurze Eskalation am frühen Morgen des 27. März 2019 in Magas, die im Anschluss zu 60 Verhaftungen mit durchschnittlich 2 Jahren Freiheitsentzug führte.

Sieben der Organisatoren, die nachweislich weder an der Kundgebung, noch je Gewalt angewendet haben, die sowohl an dieser Kundgebung als auch immer zuvor für friedliche freie Meinungsäußerung einstanden, befinden sich bis heute, also seit über zwei Jahren in Untersuchungshaft! Ausnahmslos hochgebildete, engagierte Bürger der inguschischen Zivilgesellschaft mit beeindruckenden Biographien.

Sie alle werden mit dem russischen Gummiparaphen Extremismus eingespannt und als Extremisten und Schwerverbrecher geahndet.

So der mehrfach genannte ehemalige Innenminister Inguschetiens Achmed Pogorow, und der 67jährige Philologe Achmed Barachoew, die Ramsam Kaydrow noch einige Monate vor ihrer Verhaftung persönlich aufgesucht hatte. Oder der 69jährige herzkranke Malsag Uschachow, der sich vom Schreinerlehrling zum diplomierten Pharmazeuten hochgearbeitet und als Leiter im staatlichen Gesundheitswesen das Apothekennetz ausgebaut hat. Aber auch die 42jährige Historikerin und stellvertretende Museumsdirektorin Sarifa Sautiewa, die sich für schwierige Frauenfragen einsetzt. Die erst 30 Jahre alten Juristen Bagaudin Chautiew und Ismail Nalgiew, die sich für die Jugend und Menschenrechte engagieren. Zudem der Vorsitzende des inguschetischen Rotes Kreuzes, Musa Malsagow und der Wirtschaftsprofessor der St. Petersburger Universität Barach Tschemursiew, die beide noch kleine Kinder haben.

Verzweifelte Inguschen

Zu aller tiefen Verzweiflung der Familien ist zudem niemand in Inguschetien selbst inhaftiert, sondern sind sie verteilt auf benachbarte nordkaukasische Teilrepubliken (Naltschik in Karbadino-Balkarien, Wladikawkas in Nordossetien) oder in Pjatigorsk in der Region Stawroprol.

Jetzt hat Putin wieder einen Wunsch frei bei Kadyrow

Ramsan Kadyrow hat das inguschetische Land, die Stimmen der Inguschen sitzen seit 2 Jahren hinter Gittern, Jewkurow ist stellvertretender Verteidigungsminister der Russischen Föderation. Es ist offensichtlich, dass sich der islamistische Diktator Ramsam Kadyrow auf eine echte Männerfreundschaft mehr verlassen kann, als auf die islamische Bruderfreundschaft. So wurden Kadyrows Landwünsche schnell erfüllt und auch Schwierigkeiten durch eine protestierende Zivilgesellschaft, mit denen man eigentlich gar nicht gerechnet hatte, wurden über das Bundesverfassungsgericht in St. Petersburg in knapp einem Monat aus dem Wege geräumt. Der „inguschetische Präsident“ Junus-bek Jewkurow, der im Juni 2019 zum Rücktritt gezwungen war, da er einen 99 prozentigen Vertrauensverlust in seinem Land verzeichnete, wurde schon einen Monat später vom russischen Präsidenten Vladimir Putin zum stellvertretenden Verteidigungsminister der Russischen Föderation ernannt.

Die Organisatoren einer in Inguschetien noch vorhandenen zivilen Gesellschaft, die es wagten zu behaupten, dass dies nicht Kaydrows Land ist, können dahingegen seit über zwei ganzen Jahren –wie Kadyrow ihnen angedroht hatte- auf eigenen Beinen nirgendwohin, sie sind noch immer in „Untersuchungshaft“, weggesperrt hinter Gittern.

Und wiederum stehen in Russland alle, die sich für sie einsetzen mit einem Bein im Gefängnis. Mit den unzähligen Zusatzparagraphen zu den schwammigen Gesetzen „Über ausländische Agenten“ und „Extremismus“, die der im Volksmund so bekannte „verrückte Drucker“ aus der russischen Staatsduma ausspuckt, kann heute in Russland jeder irgendwie „legal“ weggesperrt werden.

Gelingt es dennoch eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchzubringen und das dürfte bei der dort laufenden Klage für Sarifa Sautiewa sicher der Fall sein, dann, für alle, die das absurde Drama der großen Verfassungsänderung in Russland nicht genau verfolgt haben, gilt Russisches Recht vor internationalen Abkommen.

Inguschen brauchen dringend unsere Hilfe !

Doch genau deshalb müssen die westlichen Demokratien hier genau hinschauen, auch wenn der Nordkaukasus „schwierig“ ist und zeigen, dass sie mehr wissen als „nur Nawalny“ und dass ihnen das Schicksal der politischen Gefangenen in ganz Russland nicht gleichgültig ist!