31 Jahre nach dem deutschen Mauerfall. Belarus ist das Volk! „Herr Aleksander Lukaschenko – Sie sind eindeutig zu spät! “Gerade die Deutschen sollten sich an diesem ihrem ganz besonderen Feiertag, des Tages, an dem diese unmenschliche Mauer gefallen ist, an diesen bewegenden historischen Moment der Ewigkeit erinnern und jetzt dem belarussischen Volk zur Seite stehen.
Die Sowjetunion, der Fall der Berliner Mauer und die belarussische Demokratiebewegung…
31 Jahre nach dem deutschen Mauerfall ist Belarus das Volk und Aleksander Lukaschenko kommt zu spät.
Gerade wir Deutschen sollten uns an diesem besonderen Feiertag, des Tages, an dem diese unmenschliche Mauer gefallen ist, an diesen bewegenden historischen Moment der Ewigkeit erinnern und jetzt dem belarussischen Volk zur Seite stehen.
Der Mauerfall als Westdeutsche in Moskau
31 Jahre liegt er jetzt zurück, der Berliner Mauerfall. Und wie sich wohl die ganze Welt erinnern kann, was sie getan hat, an dem Tag als Kennedy erschossen wurde, so erinnert sich wohl jeder ältere Deutsche noch genau, was er am 9. Oktober 1989, am Tag des Mauerfalls, gemacht hat. Abermillionen von beeindruckenden, spannenden und unvergesslichen Erinnerungen.

Foto: Haus der Geschichte, Bonn
Ich war eine westdeutsche, recht naive, junge Studentin der Poltischen Wissenschaften aus Frankfurt am Main, die sich in Zeiten der Perestroika, in Zeiten von Michail Gorbatschow, in Zeiten des „wind of change“ auf die damalige Sowjetunion spezialisierte.
Ein junger Mensch, der nicht begreifen konnte, wie seine Großeltern nichts unternommen hatten gegen Hitler und der darauf hoffte, dass sich hinter dem Eisernen Vorhang so manches Weltengeheimnis lüftete. Ein junger Mensch, der von gänzlich Null somit auch die russische Sprache erlernen musste.
Und als Westmensch damals in die Sowjetunion zu gelangen, um die Russische Sprache richtig zu lernen, das war alles andere als einfach. Viele Hürden mussten genommen, unzählige Bestimmungen erfüllt werden. Nur sehr wenige Westdeutsche nahmen all das auf sich und bezahlten auch noch Geld dafür. Für eine Unterkunft in einem russischen Wohnheim, dessen Anblick meinen Eltern (bei ihrem Besuch innerhalb einer kontrollierten Moskau-Reisegruppe) Tränen in die Augen trieb.
Hier schlief ich also in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, als es an den Türen trommelte und im Flur Leute laut trippelte. „Die Mauer ist gefallen!“, „Die Mauer ist gefallen“. Hörte ich richtig? Plötzlich wurde die Tür aufgerissen: „Die Mauer ist gefallen!“ posaunte jemand in unsere Fünfbetteneinheit hinein. Unsere Gruppe von über 20 Russischstudenten aus der gesamten „BRD“ rannte plötzlich wie ein aufgestochener Ameisenhaufen hin und her. Die „Berliner“ unter uns hatten es durch ein Telefonat irgendwie herausbekommen und damals in der Zeit vor dem Internet, versuchten wir nun allesamt etwas aus dem einen und einzigen klobigen Fernsehapparat herauszuquetschen- und ja, selbst im noch sowjetischen Moskau, sah man in den Nachrichten einige kurze Bilder. Siegreich die Arme hochreißende Menschen und sich lachend und weinend in die Arme fallende Menschen AUF der Berliner Mauer. So war es wahr. Die Mauer war gefallen. Es war unfassbar, auch wir fielen uns in die Arme, weinten, lachten, weinten. An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Die Berliner konnten es in Moskau nicht mehr aushalten und obwohl im Grunde verboten, brachten sie es doch irgendwie fertig „zwischendurch“ nach Berlin zu fliegen. Als sie zurückkamen brachten sie einen „Stern“ mit Fotos der Wiedervereinigung mit, die Blätter dieser Ausgabe bedeckten bis zum Ende unseres Studienaufenthaltes die Wände des Flurs unserer Etage.
Ja, ich werde diesen Moment nie vergessen, dieses überwältigende Gefühl. Stolz, dass all diese Menschen ihre Angst überwunden hatten, dass sie nicht aufgegeben hatten, immer wieder friedlich auf die Straße gegangen waren und den abstrakten Begriff Volk mit ihren Gesichtern millionenfach dargestellt und „be-greif-bar“ gemacht hatten: „Wir sind das Volk!“
Der entscheidende Moment – Wir sind das Volk
Und natürlich, es gibt immer viele Faktoren, die für einen solch historischen Moment von Bedeutung sind.
So hier der sowjetische Systemzerfall, die wirtschaftliche Diskrepanz zwischen Ost und West, die Einheit des deutschen Volkes, undichte Stellen im Eisernen Vorhang, die einerseits zum Vorschein brachten, dass im Westen nicht alle kriminelle Drogenabhängige waren und andererseits, dass in der DDR weitaus mehr Gräueltaten seitens des Staates verübt wurden als man sich vorstellen konnte. (Und die IGFM ist stolz daraauf hierbei einen wichtigen und unikalen Beitrag geleistet zu haben).Ganz sicher war es auch die Persönlichkeit Gorbatschows, seine gute Beziehung zu Kohl und und und, – die Älteren unter uns haben es alle hautnah miterleben dürfen.
Beste Voraussetzungen für Systemwechsel
Und auch ist selbstverständlich dabei nicht alles eitel Sonnenschein, ist ein Systemwechsel immer mit Tausenden von kleinen und großen Problemen verbunden, selbst wenn man dafür so außerordentlich gute Bedingungen hatte wie wir in Deutschland.
Doch der wirklich entscheidende Moment war meines Erachtens der Punkt, wo der Einzelne gefühlt hat, dass nicht nur er und ein kleiner Kreis von Freunden und Bekannten unter dem unnatürlichen politischen System litt, sondern offensichtlich die breite Mehrheit. Der Moment, wo der Einzelne sieht, auch die anderen wollen und können nicht mehr. Der Moment, an dem der Einzelne sich auf der Straße mit Tausenden und Abertausenden von Anderen wiederfindet, sich gegenseitig den Rücken und das Rückgrat stärkt. Der Moment, wo man es fühlen kann, das „Wir sind das Volk!“
Parallelen zu Belarus – Entscheidende Momente
Und der Moment, vor dem Michail Gorbatschow damals die DDR Spitze warnte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“
Ja, das ist das natürliche Leben. Genau das geschieht nun gute (und schlechte) 30 Jahre später in Belarus. Ich denke, dass alle älteren Deutschen ganz von selbst durch die Bilder aus Belarus an „unsere“ Bilder aus der DDR erinnert werden. Hunderttausende friedliche, „einfache Bürger“, junge Menschen, Frauen, Familien, die ihre erste Angst überwunden haben, die jetzt wissen, dass sie nicht alleine sind und auch keine kleine Gruppe. Sie alle wollen einfach nicht mehr mit ihrem Präsidenten.
Und natürlich, es gibt immer viele Faktoren, die für einen solch historischen Moment von Bedeutung sind.
Litauen, ein kleiner, aber feiner Partner; Corona und dreiste Sprüche Lukaschenkos
So hatte der Eiserne Vorhang, hinter dem der belarussische Präsident Lukaschenko im wahrsten Sinne groß geworden war, eine große Undichtigkeit hin zum kleinen couragierten europäischen Litauen, das sich zu einer Art Oase für belarussische Freidenker entwickelt hat. Diese große Pforte brachte zum Vorschein, das einerseits im Westen kein verruchtes Chaos herrscht und andererseits, dass Belarus sich immer noch fest in sowjetischen Strukturen befand.
Auch Corona dürfte eine Rolle gespielt haben. Der belarussische Präsident, der mit seinen dreisten Sprüchen weltweit Furore machte („Besser Diktator als schwul“), trotzte der Pandemie mit dem Spruch „Besser, aufrecht sterben, als am Boden kriechen“.
Ein Wahlkampfkandidat nach dem anderen: „Gehe direkt ins Gefängnis- Karte“
Dass im belarussischen Wahlkampf mit Beginn des Jahres nach und nach alle Präsidentschaftskandidaten (außer Lukaschenko) als „Kriminelle enttarnt“ und verfolgt wurden, dürfte selbst bei gehorsamsten Sowjetnostalgikern gewisse Zweifel ausgelöst haben. So wurden der kritische Videoblogger Sergej Tichanowskij Ende Mai, im Juni der Bankmanager Viktor Babarika, mitsamt seinem Sohn inhaftiert und Ende Juli begab sich Valerij Zepkala mit den beiden Söhnen auf die Flucht außer Landes.
Chapeau! Das weibliche Dreiergespann der belarussischen Opposition
Ganz sicher von Bedeutung waren im Folgenden die Persönlichkeiten dreier junger Frauen. Nämlich der Ehefrau des Bloggers, Swetlana Tichanowskaja, des Diplomaten, Veronika Zepkalo und der guten Bekannten des Bankiers, Maria Kalesnikowa. Alle drei keine erfahrenen Politikerinnen, Tichanowskaja 38 Jahre alt, Fremdsprachensekretärin für eine NGO, später Hausfrau und Mutter. Zepkalo, studierte Ökonomin, die „Frau des Botschafters“, ebenfalls Mutter sowie Kalesnikowa, gleicher Jahrgang wie Tichanowskaja, studierte und professionelle Musikerin. Ihr gutes Deutsch stammt sicher auch aus ihrem Studienaufenthalt an der Stuttgarter Hochschule für Musik. Tichanowskaja hatte sich nach der Inhaftierung ihres Mannes noch selbst als Präsidentschaftskandidatin registrieren können und die beiden anderen haben sie nach Inhaftierung und Flucht von Babarika und Zepkalo in ihrem Wahlkampf unterstützt.
Aus der Not geboren – natürlich, couragiert und echt
So wurde das weibliche Dreiergespann des Präsidentenwahlkampfs diesen Sommer in Belarus im wahrsten Sinne aus der Not heraus geboren. Doch offensichtlich war es genau das, was ihren Erfolg mitbegründete, denn die Drei machten in ihren Wahlkampfreden keinen Hehl daraus: Sie sprachen über ihre Ehemänner, Familien und Freunde, die hinter Gittern steckten oder auf der Flucht mit den eigenen Kindern waren, sie waren keine alten politischen Hasen, sie waren natürlich, couragiert und echt. Und das kam an bei der Bevölkerung. Insbesondere Swetlana Tichanowskaja merkte man an, dass sie ein Stück überwältigt war von alldem, was da plötzlich auf sie zugekommen war. Menschen, soweit das Auge reicht, strömten zu ihren Wahlveranstaltungen. Wer käme in dieser Situation auf dem Podium nicht erst einmal ins Schlucken? Sie kam es, doch auch hier sagte sie dann so etwas wie, Entschuldigung, aber ich muss erst einmal tief Luft holen und man spürte, selbst durch die Videoübertragungen hindurch, wie gut alle das nachvollziehen konnten und sie genau für diese Echtheit, für ihre Courage, für den „einfachen Menschen“, der hier von ihnen stand, liebten.
Leute von heute

Vlnr.: Maria Kolesnikowa mit Herz, Swetlana Tichanowskaja mit Faust und Veronika Zepkalo mit dem Victory Zeichen, © Werbung für Großveranstaltung in der Hauptstadt Minsk am 30 Juli 2020.
Ganz so „einfach“ waren sie selbstverständlich nicht, alle Drei waren Menschen „von heute“, gebildet, auslandserfahren, breit vernetzt. Ihr Auftreten, ihre Wahlspots und Symbolik waren modern und professionell, zugleich für die Massen einfach zugängig und einfach replizierbar. So hieß es auch immer eindringlich an die Menge: Leute wir leben im Jahr 2020, nutzt die modernen Techniken, um andere zu erreichen.
Die Wahlergebnisse – zu hoch gepokert
Vor nunmehr genau zwei Monaten wurde dann am Wahlabend des 9. August wie immer der haushohe Sieg sowie der geringe (wenngleich für belarussische Verhältnisse sehr hohe) Stimmanteil Tichanowkajas bekannt gegeben (80:10 %). Während in Deutschland solche Wahlergebnisse auf Bundesebene nur noch aus Zeiten „vor dem Mauerfall“ in der DDR bekannt sind (wählen gehen = falten gehen), erzielte Lukaschenko bis heute in allen Präsidentenwahlen (6) seiner mittlerweile 26jährigen Amtszeit immer um die 80 %. Der genaue Durchschnitt dieser 6 Wahlergebnisse ist zumindest 80,31.
Es ist gut möglich, dass die Belarussen ein Endergebnis von 51 % für Lukaschenko hingenommen hätten, aber 80:10, das war für Hunderttausende glatter Wahlbetrug und es kam in ganz Belarus sofort zu empörten Protestdemonstrationen.
Was dann geschah wissen wir aus den schockierenden Bildern der Nachrichten und diejenigen unter uns, die auch nur irgendwelche entfernte Kontakte mit Belarus hatten, bekamen die Schockaufnahmen direkt auf ihr Handy.
Unmenschliche Polizeigewalt – Maamaaa Hilfe!- Präsident schultert Kalaschnikow
Ein friedlicher Demonstrant gehetzt von einer kleinen Polizeitruppe, gefangen und so lange auf ihn eingeprügelt, bis er sich nicht mehr bewegte, begleitet von den panischen, herzzerreißenden Hilferufen eines Kindes: „Mama, schau, was machen die da, Mama, Maaamaaa…“. Das war meine erste Whatsapp-Nachricht dazu, gesendet von einem moldauischen Kollegen. Viele Dutzende folgten über sämtliche Kanäle.
Tausende von Demonstranten wurden ins Gefängnis gesteckt, viele Entlassene wiesen deutliche Spuren von Gewalt auf und berichteten von Folter. Währenddessen warf sich der 66jährige Landespräsident in Militäruniform, schulterte die Kalaschnikow und bedankte sich öffentlich bei der Polizei für ihre gute Arbeit.
Todesopfer Gennadij Schutow, IGFM unterstützt seine Familie
Mehrere Menschen sind in diesen Rangeleien zu Tode gekommen, ein Mann, Gennadij Schutow, wurde in Brest „versehentlich“ von der Polizei erschossen (Die IGFM berichtet und versucht seine Familie zu unterstützen. Er hinterlässt 5 Kinder).
Zu viel des Schlechten
Swetlana Tichanowskaja wurde ganz offensichtlich so schwer zugesetzt, dass sie mit ihren beiden Kindern nach Litauen flüchtete, wo sie von der Regierung offiziell unter Schutz genommen wurde. Ihr Mann ist noch immer in Belarus im Gefängnis. Veronika Zepkalo ist ihrem Mann und ihren Kindern ins Exil gefolgt. Geblieben war noch Maria Kolesnikowa, die Musikerin, die in Stuttgart studiert hat, die immer wieder anspornte: „Wir dürfen keine Angst haben, wir müssen standhaft bleiben, wir müssen hier und jetzt für unser Heimatland kämpfen…“. Doch auch ihr wurde dann am 7. September wohl wie so vielen ein Sack über den Kopf gestülpt und weg, außer Landes mit ihr… Jedoch hatte sie sich in dem Augenblick, in dem sie dann ihren Pass offiziell zerrissen hat, für das Gefängnis in der Heimat und gegen das freie Exil im Ausland entschieden. Das soll ihr erst einmal jemand nachmachen.
Ist eigentlich jemandem aufgefallen, dass, wenn dies ein Regiebuch für einen Krimi oder Thriller wäre, es die Zuschauer sicher für viel zu übertrieben hielten? Es sei denn, man datierte die Handlung in die Zeit vor dem Fall der Mauer zurück. Aber nein, all das und viel mehr ist heute so geschehen und hier bei uns in Europa, denn das belarussische Brest (780 km) ist weniger als die Hälfte weit von Berlin entfernt als das französische Brest (1600 km).
Der historische Wendepunkt in Belarus ist wie begründet nicht mehr rückgängig zu machen, die Menschen in Belarus haben erlebt und gesehen wer und wie viele sie sind, auch die ganze Welt war Zeuge.
Es wird nicht einfach
Und wieder ist selbstverständlich dabei nicht alles eitel Sonnenschein, ist ein Systemwechsel immer mit Tausenden von kleinen und großen Problemen verbunden, gerade hier, wo die Bedingungen viel schlechter sind als damals für Deutschland.
Ich bin überzeugt, dass es auch eine bedeutende stillschweigende Anzahl von belarussischen Bürgern gibt, die großen Veränderungen angstvoll und skeptisch gegenüberstehen. In meinen letzten Reisen nach Belarus noch vor vier Jahren, schien mir das gar noch das Gros der Bevölkerung. Belarus war praktisch eine Art Oase für Sowjetmelancholiker. Auch die vielen jungen Studenten, die ich kennengelernt habe, waren alle ausgesprochen schüchtern in politischer Hinsicht. Wenngleich Korruption eine große Rolle spielt in Belarus, so hatte Lukaschenko nie eine vergleichbare Privatisierung betrieben wie alle anderen postsowjetischen Staaten, hier muss man aus den Fehlern der anderen lernen. Ganz schwierig wird die Beziehung zum Putinschen Russland sein, doch hier liegen große Chancen auch für eine zunehmende politische Befreiung des russischen Volkes. Und nicht zuletzt klar ist auch, dass mit dem Sturz, der Abdankung oder dem per Wahlen entschiedenen Ende Lukaschenkos, erst der mühsame Systemwechsel beginnt, bei dem die Belarussen sehr genau aufpassen müssen, dass sie nicht übers Ohr gehauen werden.
Zeit für das belarussische Volk, zu spät für Lukaschenko
Und gerade die Deutschen sollten sich an diesem ihrem ganz besonderen Feiertag, des Tages, an dem diese unmenschliche Mauer gefallen ist, an diesen bewegenden historischen Moment der Ewigkeit erinnern und dem belarussischen Volk zur Seite stehen. Der belarussische Präsident Aleksander Lukaschenko hatte die letzten 26 Jahre Zeit, um mit seiner Bevölkerung zu wachsen, dass er sich ihr mit Militärkleidung und Kalaschnikow entgegenstellt, zeigt deutlich, dass er jede Chance dazu verpasst hat und es zu spät für ihn ist.
Dr. phil. Carmen Krusch-Grün
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