Verbot entlarvt Putin-Regime als Erbe der Sowjetunion

Anlässlich des gerichtlich verfügten Verbots der Moskauer Helsinki-Gruppe am 25. Januar 2023 beschuldigt die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte das Putin-Regime, die direkte Nachfolge des Sowjetregimes angetreten zu haben. Die Menschenrechtsorganisation fordert die Teilnehmerstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) auf, die neuerlichen Verbote von Menschenrechtsorganisationen in Russland zum Anlass zu nehmen, zusammenzutreten, die Beschlüsse von Helsinki 1975 zu bekräftigen und Russland aufzufordern, die damals getroffenen Vereinbarungen zum Schutze der Menschenrechte einzuhalten und an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Nach dem Vorbild der Moskauer Helsinki-Gruppe entstanden 1976 und im Frühjahr 1977 entsprechende Ausschüsse in der Ukraine, in Litauen, Georgien und Armenien. Ihre Berichte über Menschenrechtsverletzungen waren sehr fundiert und um höchste Objektivität und Sachlichkeit bemüht. Zu den besonderen Verdiensten zählt, dass sie auch die vielfach miserable Versorgungslage und die Rechtlosigkeit der sowjetischen Arbeiterschaft zur Sprache brachten.

In der Sowjetunion hatte es länger als in irgendeinem anderen Ostblockstaat Initiativen zur Verwirklichung der Menschenrechte gegeben. Mit der Formierung als Bürgerrechtsbewegung in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren immer wieder neue Gruppen entstanden, die faktisch die gleiche Zielsetzung hatten, doch keine – inklusive des Komitees für Menschenrechte von Prof. Dr. Sacharow – vermochte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit so zu erreichen wie die Moskauer Helsinki-Gruppe.

Entsprechend früh begann die Verfolgung ihrer Mitglieder: Prof. Jurij Orlov, korrespondierendes Mitglied der Armenischen Akademie der Wissenschaften, der zum Leiter der Helsinki-Gruppe bestimmt worden war, wurde am 10. Februar 1977 verhaftet und wegen „Verbreitung von Lügen zur Verleumdung des sowjetischen Staats“ (StGB § 190) unter Anklage gestellt; Alexander Ginsburg wurde am 3. Februar 1977 verhaftet und gemäß § 70 wegen „Antisowjetischer Agitation und Propaganda“ angeklagt. Typisch für diese Zeit waren die Versuche des sowjetischen Geheimdienstes KGB, den Mitgliedern der Helsinki-Gruppen kompromittierendes Material (Devisen, Waffen) unterzuschieben, ja sogar mit einem Anschlag auf die Moskauer Metro in Verbindung zu bringen. Das Bestreben der Behörden war, den Begriff des „Dissidenten“ zu einem Synonym für vom Ausland inspirierte und bezahlte Verräter, Spione und kriminelle Verbrecher zu machen.

Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte hielt über alle Jahre engen Kontakt zu den Mitgliedern der Helsinki-Gruppen. Sie veröffentlichte zahlreiche Berichte wie z.B. über den „Missbrauch der Psychiatrie zu politischen Zwecken“ und andere Dokumente, auch aus dem Samisdat, der Untergrundliteratur der sowjetischen Bürgerrechtsbewegung. Mitglieder der Moskauer Helsinki-Gruppe wie z.B. Wladimir Bukowski, Josip Terelja, Pjotr Grigorenko, Alexander Ginsburg waren Gäste der IGFM-Jahresversammlungen oder sprachen bei IGFM-Kundgebungen. Die Mitgründerin der Moskauer Helsinki-Gruppe und Granddame der Bürgerrechtsbewegung Ljudmila Alekseeva, 91jährig 2018 verstorben, mahnte bei der IGFM-Jahresversammlung 1999:

Russland wird nur dann ein stabiler Staat werden, wenn die Gesellschaft der Bürger es schafft, stark und aktiv genug zu sein, um die Autoritäten zu zwingen, die Bürgerrechte zu respektieren, mit den öffentlichen Organisationen zusammenzuarbeiten und sie als gleiche Partner zu behandeln.

Im Gedenken an die das Jahrzehntelange Wirken der Moskauer Helsinkigruppe erinnert die IGFM an ihre Gründungserklärung, die unter dem Putin-Regime nichts an ihrem Auftrag verloren hat.

Gründungserklärung der Moskauer Helsinkigruppe

Am 12. Mai 1976 wurde in Moskau eine Gruppe zur Förderung der Durchführung der Helsinki-Beschlusse in der UdSSR gebildet. Diese Gruppe hat sich zum Ziel gesetzt, die Einhaltung der humanitären Artikel der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu fordern. Gemeint sind dabei folgende Artikel der Schlussakte:

1. Die Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten:

Punkt VII, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschliesslich der Gedanken-, Gewissens-, Religions oder Uberzeugungsfreiheit.

2. Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen:

1. Menschliche Kontakte (darunter Punkt b — Familienzusammenführung),

2. Information,

3. Zusammenarbeit und Austausch im Bereich der Kultur,

4. Zusammenarbeit und Austausch im Bereich der Bildung.

Als ihr vornehmstes Ziel betrachtet die Gruppe die Information aller Regierungschefs, die die Schlussakte vom 1. 8. 1975 unterschrieben haben, sowie die Unterrichtung der Öffentlichkeit über Falle von direkter Verletzung obengenannter Artikel.

Zu diesem Zweck nimmt die Gruppe schriftliche Beschwerden von Sowjetbürgern entgegen, die diese persönlich betreffen und die Verletzung der obengenannten Artikel zum Inhalt haben; sie überreicht diese Beschwerden allen Regierungschefs, die die Akte unterzeichnet haben, und legt sie der Öffentlichkeit vor; die von den Beschwerdefuhrenden unterzeichneten Originalschreiben behält die Gruppe in ihrem Gewahrsam.

Mit Hilfe der Öffentlichkeit sammelt sie alle Informationen über die Verletzung der obengenannten Artikel, bearbeitet diese und schickt sie unter Beifügung ihres Urteils über die Glaubwürdigkeit des Inhalts an die betreffenden Regierungschefs und an die Öffentlichkeit.

In den Fällen, in denen die Gruppe auf konkrete Informationen über besonders krasse Unmenschlichkeit stösst, z. B.

Wegnahme der Kinder von religiösen Eltern, die ihre Kinder in ihrem Glauben erziehen wollen,

zwangsweise psychiatrische Behandlung zum Zweck, das Denken, das Gewissen, die Religion, die Überzeugungen zu beeinflussen und zu ändern,

die dramatischsten Falle von Familientrennung,

Falle besonders unmenschlicher Behandlung der ‚Gewissenstäter‘,

wird die Gruppe jeweils bestrebt sein, sich an die Regierungschefs und an die Öffentlichkeit mit der Bitte zu wenden, sie mochten internationale Kommissionen bilden, um diese Informationen an Ort und Stelle zu prüfen. Denn die Gruppe selbst wird nicht immer die Möglichkeit haben, eine solch wichtige und verantwortungsvolle Information selbst und unmittelbar nachzuprüfen.

Die Gruppe hofft, dass ihre Information bei allen offiziellen Begegnungen, die in der Schlussakte durch den Punkt ‚weitere Schritte nach der Konferenz‘ vorgesehen sind, berücksichtigt wird.

In ihrer Tätigkeit gehen die Mitglieder der Gruppe von der Überzeugung aus, dass Fragen der Menschlichkeit und offene Information in direkter Beziehung zu den Problemen der internationalen Sicherheit stehen; sie rufen daher die Öffentlichkeit in den anderen Teilnehmerstaaten der Helsinki-Konferenz auf, ihrerseits Gruppen zu bilden, die eine strikte Durchführung der Helsinki-Beschlusse durch die Regierungen ihrer Länder zu fordern suchen.

Wir hoffen, dass in der Zukunft auch ein entsprechendes internationales Forderungskomitee gebildet wird.

Die Mitglieder der Gruppe zur Forderung der Durchführung der Beschlusse von Helsinki in der UdSSR:

Ljudmila Alekseeva

Michail Bernstam

Elena Bonner

Aleksandr Ginzburg

Pjotr Grigorenko

Dr. Aleksandr Korcak

Mal’va Landa

Anatolij Marcenko

Prof. Jurij Orlov (Leiter der Gruppe)

Prof. Vitalij Rubin

Anatolij Scaranskij

 

Moskau, Mai 1976

 

(Erklärung veröffentlicht im Juli 1977 von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in Zusammenarbeit mit dem Schweizer interkonfessionellen Institut G2W in „Dokumente der Moskauer Helsinki-Gruppe“)