„Brilliantgrün“ als Giftmittel im politischen Schaukelboot?
Neue Stufen der politischen Auseinandersetzung in Russland
Verschiedene Aktionen und Ereignisse des gesellschaftspolitischen Lebens in Russland unterscheiden sich von der bisherigen Situation:
Kundgebung gegen Korruption am 26. März 2017
Vor allem fällt auf, dass der Frühlingszuwachs alle Schattierungen der gesellschaftspolitischen Spektren erfasste.
So versammelten sich am 26. März d.J. auf den Kundgebungen gegen Korruption, zu denen Aleksander Nawalny aufgerufen hatte, zum Erstaunen selbst der Organisatoren, Menschenmassen angefangen von in großen Städten bis zu 30 000 Teilnehmern bis hin zu Tausenden in kleineren Städten.
Überall unter ihnen auffallend viele junge Menschen.
Erfreulicherweise führten die vielzähligen Verhaftungen von Teilnehmern bislang nicht zu vielzähligen Strafverfahren wie dies nach den Bolotnaja-Ereignissen der Fall war.
Aufruf zum Aufmarsch am 2. April
Auch der anonyme Aufruf am 2. April d.J. auf die Straße zu gehen zählt dazu. Hier wurden nach offiziellen und inoffiziellen Angaben im Moskauer Zentrum mehr als 30 Personen festgehalten, da sie gemäß eines Gummiparagraphen gegen die öffentliche Ordnung verstoßen hatten. Es kam zur Eröffnung eines Strafverfahrens, der Inhaftnahme und zweimonatigen Inhaftierung des 25jährigen Universitätsdozenten Dimitrij Bogatow, der angeblich im Internet zu diesem Aufmarsch am 2. April aufgerufen haben soll. Ihm droht nun für das Aufrufen zur öffentlichen Unruhe (Art. 212.3 StGB RF) eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren.
Aufruf zur Kundgebung am 23. April
Ebenso das schwache Ergebnis der Bewegung „Offenes Russland“ bei dem Versuch den Erfolg Nawalnys vom 23. April zu wiederholen. Die unter Schirmherrschaft von Michail Chodorkowski stehende Bewegung „Offenes Russland“ hatte mit ihrer befremdlichen Losung „Ich hab es satt“ zu einer Kundgebung am 29. April 2017 aufgerufen, bei der sich laut Angaben der Polizei in Moskau ca. 250 Personen versammelten. In Anschluss daran wurde die Koordinatorin von „Offenes Russland“, Maria Boronowa, zur Bezirkspolizeistation „Kitaj gorod“ zu einem Gespräch abgeführt.
1. Mai-Festtag
Und zum Schlußakt all dieser leisen und lauten öffentlichen Aktionen:
Die 1. Mai-Demonstrationen, die an einem frühlingshaften Tag, den Tag der Arbeit feiern (irgendwann in der schon vergessenen Vergangenheit der internationale Tag Solidarität der Arbeiter). Sie vereinten in Moskau mehr als 100 000, in St. Petersburg mehr als 200 000 Menschen. Die Prozessionen wurden von den Behörden genehmigt. Behördliche Leitung hatten Vertreter der Regierungspartei „Vereintes Russland“ und des unabhängigen Gewerkschaftsverbandes Russlands „FNPR“. Doch was interessant ist, ist dass gleichzeitig nicht nur „pseudooppositionelle“ wie „Vereintes Russland“, die Kommunistische Partei und die Gewerkschaften, Aktionen durchführten, sondern auch Nationalisten, Anarchisten, Monarchisten verschiedener Facon, LGBT-Vertreter sowie andere informelle Gruppen und Strömungen, die alleine in St. Petersburg geschätzte 30 000 Menschen zusammenbrachte.
Und hierbei kam es kaum zu Verhaftungen. Die Behörden zeigten eine für sie in den letzten Jahren untypische Humanität und Duldsamkeit (Modernität, Toleranz).
Man darf hoffen
Von dem Hintergrund des sichtbaren Anwachsens gesellschaftspolitischer Bewegungen und wiederkehrendem politischem Interesse verschiedenster sozialer Gruppen angefangen von sehr Reichen bis hin zu ganz Armen, gibt dies doch Anlass sich zu freuen und darauf zu hoffen, dass die Regierung eine vernünftige Änderung ihres wirtschaftlichen Kurses im Interesse der Bevölkerung und damit auch der Menschenrechte einschlägt.
Foto: ‚Alexei Navalny, Russian opposition leader, is pictured on a street after zelenka attack in Moscow‘. Quelle: Evgeny Feldman, via Wikimedia Commons
„Seljonka“ als Waffe, Nawalny auf einem Auge fast blind
Anderseits allerdings verwandelte sich in ebendiesen Frühlingstagen auch der Farbstoff „Brilliantgrün“ (Triphenylmethan, in Osteuropa u.a. als Antiseptikum verwendet, umgangssprachlich „Seljonka“), in ein Instrument des Terrors, eine Waffe für Vergeltungsmaßnahmen gegen einige Personen, die oppositionelle Ansichten äußern.
So wurde Aleksander Nawalny zweimal mit „Seljonka“ attackiert. Das erste Mal in Barnaul (Stadt in Sibirien) am 20. März d.J. bei der Eröffnung des Wahlkampfbüros, das zweite Mal am 27. April in Moskau.
Als Folge der letzten Attacke verlor Nawalny auf einem Auge 80 Prozent seiner Sehfähigkeit. Auch wurde der Blogger Ilja Barlamow, der verschiedene aktuelle Themen, wie beispielweise auch die zu der Attacke gegen Nawalny in Barnaul, lautstark in die Öffentlichkeit bringt, am 26. April in Stawropol, wo er Filmaufnahmen über ein regionales führendes Bauunternehmen machen wollte, selbst mit Seljonka übergossen.
Reaktion der Behörden bleibt aus
In all diesen Fällen zeigen die zuständigen Behörden Passivität,- Untersuchungen werden nicht durchgeführt, Strafanzeigen werden nicht gestellt, obgleich der Sehverlust von 80 Prozent eine schwere Körperverletzung darstellt.
Offensichtlich, dass seriöse Regierungsvertreter mit diesen Vorfällen nicht in Zusammenhang stehen und auch Seljonkawerfer nicht unterstützen.
Aber bisher hat sicht niemand aus der Präsidialverwaltung, aus der Regierung, aus der Staatsduma oder aus dem Föderationsrat der Russischen Föderation gegen eine solch aggressiv-verletzende Handlung öffentlich stark gemacht. Niemand gefordert, dass die Tatverantwortlichen unbedingt zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
Das aber verschafft den politischen Hooligans das Gefühl, dass sie sich alles erlauben können. Und dieses Gefühl kann im schaukelnden politischen Boot weitaus mehr Schaden anrichten als die friedlichen oppositionellen Aktionen, selbst wenn diese der Regierung nicht genehme Parolen verkünden.
Expertengruppe der russischen Sektion der IGFM
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