POLITIK DER ABSCHRECKUNG – POLITIKA SAPUGIWANIJA

Russland, MOSKAU, November 2019

 

russische Kunst zu den letzten 9 Machthabern (ohne aktuell Putin), ausgestellt in der Galerie des Haus des Glücks, in Borowsk, 11.2019

 

30 Jahre danach

In diesem Jahr sind genau 30 Jahre vergangen, seit ich in Sowjet-Moskau gelebt habe. Obgleich seither dutzende Male dort gewesen, bleibt im Kopf immer der Vergleich und immer wieder beschäftigt er mich die ganze Zeit über. Welche Welten liegen dazwischen! In jedem Zipfel der Stadt spürt man das Ballungszentrum Russlands, dessen gesamtes Gebiet Moskau größer ist, als die Niederlande. Die mit langem Abstand größte Hauptstadt Europas im größten Land der Welt. Mit offiziellen ca. 15 Millionen und bis zu 20 Millionen geschätzten Einwohnern. Bluthochdruck!

Stau – „Propka“

Angekommen am Flughafen Scheremetjewo, gute zwei Stunden für 40 Kilometer durch den Stau auf bis zu 6-spurigen neuen breiten Straßen. Trotz intensivem Straßenbau, kommt die Stadt den Menschenmassen nicht hinterher.  Abermillionen Moskauer stehen mit ihren großen SUVs täglich stundenlang im Stau. Auch die Metro wird stetig ausgebaut und transportiert im Minutentakt und Höchstgeschwindigkeit täglich Abermillionen Menschen, heute ganz selbstverständlich immer auch mit Ansage in englischer Sprache, mit freiem Metro-Wifi wie fast überall, mit ständiger moderner Animation auf neuen Monitoren.

In der Moskauer Metro

 

Doch auch hier kann eine Fahrt von einem zum anderen Ende der Stadtlinie bis zu zwei Stunden beanspruchen.

Hypermarkets, Gigantismus

An vielen Metrostationen sind Hypereinkaufzentren entstanden, dass einem die Spucke wegbleibt. Gigantisch, luxuriös, alles im Übermaß und Überfluss. Jedes Neue will die anderen übertrumpfen. Riesige Aquariensäulen, die sich über viele Etagen erstrecken, hochmoderne Spielzentren, Gourmettempel, alles, was man sich nur vorstellen kann.

Das Einkaufszentrum GUM direkt am Roten Platz, in dem vor 30 Jahren gähnende Leere herrschte, ist heute eine paradiesische Glimmerwelt auf höchstem Niveau.

Unweit von ihr wurde damals nach dem Zerfall der Sowjetunion der erste Mac Donalds aufgemacht. Die Menschen standen im ersten Jahr immer viele Stunden lang in der Kälte, um hineinzukommen. Heute ist diese Riesenkette längst an jeder Ecke und überall zu finden, doch völlig untergeordnet in dem Meer von Fast-Food-Angebot. Relativ neu, aber typisch für das heutige Moskau so zum Beispiel die „Food City“ im Süden der Stadt.

 

 Fotos: Glimmerwelt Roter Platz,  11.2019

Basilius Kathedrale

 

Erleuchtetes GUM

 

Märchenhafte Winterbeleuchtung

 

Der alte Brunnen im GUM umgeben von künstlerischer Winterdekoration

 

Ein Blick auf den Kreml

 

 Food-City Moskau

Ich könnte mir gut vorstellen, dass es der größte frische Lebensmittelmarkt der Welt ist.  Aktuell Granatäpfel soweit das Auge reicht und noch viel weiter. Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, Kräuter, Gewürze alles im XXL-Maß. Und die Preise unterscheiden sich nicht von den unsrigen hier.

Selbstverständlich gibt es diese Riesen nicht nur im Lebensmittelbereich. Es gibt gigantische Bauzentren, Technik- oder Freizeitzentren.  Unzählige neue Wohn- und Büro-zentren, immer gigantisch, hochmodern und luxuriös. Nichts läuft in der Stadt mehr ohne Internet, ohne die entsprechende App für den jeweiligen Bedarf.

Doing business

Nicht umsonst ist Russland in diesem Jahr in die Top 30 des „Doing Business Index der Weltbank“ aufgerückt. Die Stadt strotzt nur so vor „doing business“. Aber auch um Moskau Stadt herum, zieht sich der Neubau in kleineren Maßstäben fort. Überall neue Einfamilienhäuser, kleine und große. Baustellen, neue Straßen, Ausbau des Aufbaus. In den vielen neuen „besseren Zentren“ fehlt allerdings nie der große Zaun rund um das eigene Anwesen und die gesamte Wohneinheit.

 In der Kleinstadt Borowsk, 50 km südl. von Moskau, ein Haus zu vermieten, Lenin gibt´s gleich gratis dazu

 

Und natürlich gibt es sie noch, die Wohngiganten aus der Sowjetzeit, die hässlichen Wohnkolosse am Rande der verstopften, schwer pulsierenden Adern der Stadt, die Abermillionen von einfachen Bürgern beherbergen. Noch immer bestimmen sie das Gros der Moskauer Bevölkerung, die sich im Modernisierungswettstreit und Hochdruck der Ostmetropole, heute ihren Platz schwer erkämpfen muss.

Dollarmillionäre gedeihen

Und scheinbar steigt auch deren Lebensstandard, denn laut Global Wealth Report der Schweizer Bank Credit Suisse, betrug das durchschnittliche Pro-Kopf-Vermögen der Russen zur Jahresmitte 24 713 Euro. Das ist ein Plus von sage und schreibe 37 Prozent gegenüber dem Vorjahr und von 63 Prozent gegenüber 2017.  Doch genau hier liegt der Hase begraben, denn den russischen Durchschnittsbürger gibt es so nicht. Die Kluft zwischen dem Großteil der ärmeren Bevölkerung und den Reichen bleibt nicht nur bestehen, sondern vergrößert sich, die Zahl der Dollarmillionäre steigt stetig an und hat sich alleine im letzten Jahr sprunghaft auf fast 250 000 verdoppelt. Auch die Zahl der Dollarmilliardäre wächst an.

Demokratie und Menschenrechte. Politik der Abschreckung „Politika Sapugiwanija“

Kurz,- ich befinde mich als ehemals im Sowjetmoskau gefeierte, exklusive Pflanze aus dem Westen, heute als welkes Blatt aus hessisch Sibirien auf den hyperventilierenden Riesenwellen der Hauptstadt.

Als ehemalige Sowjetologin, die den Sowjetmenschen hin- und her analysiert hat, immer wieder beschrieben, warum es dem Sowjetmenschen an Eigendynamik und Eigenverantwortung fehlt,- auf dem neuen Planeten des „doing business“.

Als Politologin, als Osteuropareferentin der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, die seit Jahrzehnten die repressive Autokratie der postsowjetischen Ländern angreift,- inmitten von allgegenwärtigem freiem Internet, von freiem Unternehmertum, von hochpulsierendem Weltstadtgetöse.

Wie ist es überhaupt möglich, diese so moderne und freie Entwik-klung in politischem Zaum zu halten?

Vor den Kreml Mauern, links die 16 m hohe und 25t schwere, symbolträchtige Statue des Großfürsten Wladimir (988 n.Chr.), die 2016 vom russ. Präsidenten feierlich eingeweiht wurde

 

Es ist viel einfacher als man denkt: Es ist eine Politik der „Verängstigung“ der politisch potentiell engagierten Bevölkerung. Es sind viele kleine Signale der Machthaber, die dem Bürger eines ganz klar machen: „Du kannst dich hier frei bewegen, solange du uns nicht zu nahe trittst“.

Hier einige Beispiele: Wer in Russland an Demonstrationen teilnimmt, kann alleine dafür große Geldstrafen zahlen müssen. Strafen, die zehnmal höher liegen als beispielsweise dafür, einen Verkehrsteilnehmer bei einem Unfall lebensschwer verletzt zu haben. Für Organisatoren von Demonstrationen potenzieren sich gar die Geldstrafen. Die Gesetze dazu sind dabei so schwammig, dass diese Strafen beliebig und willkürlich angewendet und auch wieder abgewendet werden können. In Moskau wird hier bei Demonstrationen auch nach der XXL Manier der Stadt verfahren, hier werden nicht einige, nicht Dutzende, nicht Hunderte bei Demonstrationen verhaftet, sondern gleich Tausende. Zwar wird der Großteil auch wieder schnell freigelassen, doch die Signale für die allgemeine Bevölkerung sind damit eindeutig.

Am Tag meiner Einreise hat ein Demonstrant, Daniel Begletz, der die schlagende Hand eines Polizisten zurückhielt, 3 Jahre Freiheitsentzug erhalten und dem bekannten, heute 78-jährigen Dissidenten und Bürgerrechtler Lew Ponomarjow, wurde seine Menschenrechtsorganisation geschlossen.

All dies kurze „Nebennachrichten“ in den ständig und überall rauschenden Medienkanälen. Nebenbei, aber deutlich.

Der Konferenz, zu der ich angereist war, nämlich zum Thema Medien und Menschenrechte, wurden kurzfristig vom Vermieter die Räumlichkeiten abgesagt, „zu politisch“.  Nach vielen Absagen mit der gleichen Begründung, konnte nur unter Umwegen noch ein Raum gefunden werden.

Die Politik der „Sapugiwanija“ (Abschreckung) zeigt ihre Wirkung, während Menschen-rechtler zu Sowjetzeiten die insgeheime Hochachtung von Millionen Sowjetbürgern genossen und sich Millionen zur letzten Ehre Andrej Sacharows in tagelange Schlangen bei Eiseskälte aufmachten, so haben sie heute zumeist etwas Anrüchiges und man geht auf Distanz.

Politik der neuen Spaltung mit alten Werten

Gepaart ist diese Politik mit einer Verunsicherung gegenüber dem Westlichen, beruhend auf einer noch fest verankerten konservativen, orthodoxen Wertegemeinsamkeit.

Der westliche Fremde, der damals als gefeierter Exot aus dem freien, verwun-schenen Land kam, ist heute derjenige, der für die „absurden, ungerechten“ Sanktionen verantwortlich ist, der mit seinem überstrapazierten Demokratiebegriff „natürliche“ Grenzen überschreitet. Dort, wo „Schwule sich auf der Straße küssen“ und es „wie viele Toiletten für wie viele Geschlechter jetzt gibt?“.  Dort, wo sich die Bevölkerung von muslimischen Migranten auf der Nase herumtanzen lässt.

Wiedererbaute Sophienkathedrale, die zum Zentrum des wiederbelebten orthodoxen Glaubens geworden ist

 

 Süßwaren von der Krim auf dem großen Klingenmarkt in Moskau. Die ukrainische Verkäuferin beteuert inbrünstig, dass sie sich nur in Russland sicher fühlt

 

Auch hierzu immer wieder Nachrichten im Rausche der Stadt, ganz wie nebenbei,- aber deutlich.

Ich liebe dieses Land und die Menschen, seit mittlerweile, wie gesagt, 30 Jahren. Meine Freundschaften von damals kann all das nicht erschüttern, doch wie lange wird man mich überhaupt noch einlassen in das Land, wie lange werde ich meine Freunde noch besuchen können, ohne sie zu gefährden? Und wie stark bin ich, um diesen für mich schweren Verlust zuzulassen?

Dr. rer. pol. C. Krusch, November 2019

 

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