In ehrenvollen Gedenken an Valerij Senderow, ehemaliger IGFM Vorsitzender in der UdSSR

Ich möchte Ihnen ein Urgestein der IGFM, einen politischen Gefangenen aus der Gründungszeit der IGFM, vorstellen. Valerij Senderow, der am 12.11. 2014 im Alter von 69 Jahren verstorben ist.
Ich möchte das, weil ich ihn kannte, ohne ihn erkannt zu haben und erst durch Studium seiner Akte einen Menschen gefunden habe, dem ich nun die Hochachtung zollen kann, die ihm gebührt.

Ich kam 1989 zur IGFM. Ich war Studentin der Poltischen Wissenschaften mit Spezialisierung auf die damalige Sowjetunion. Vor diesem Hintergrund lebte und studierte ich 1988-1989  in Moskau. Es war die Zeit der späten Perestroika, der politische Druck von oben war in seinen letzten Zügen, der politische Wandel hatte die Vorherrschaft übernommen.

KSZE Konferenz Okt. 1991 in Moskau. Von l. nach r.: A. Heise, Praktikantin, C. Krusch-Grün, Pater Gleb Jakunin, ehem. politischer Gefangener auch IGFM-Fall, I. Maksimowa, IGFM Moskau, Prinz Seyn-Wittgenstein, F. Dhont

Das nutzte ich aus, und so bewegte ich mich zwar illegal (uns war damals nur ein Ausgangsradius von 30 km aus unserem Wohnheim gestattet), aber doch unvermutet frei in dem größten Land der Welt. Ich lernte Land und Leute kennen und lieben.

Zurück in Deutschland wollte ich unbedingt weiter damit verbunden bleiben und wollte für die Menschen dort Gutes tun. So gelangte ich auf direktem Wege zur IGFM. Hier lernte ich den Gründer der IGFM, Herrn Iwan Agrusow, kennen und bewundern.

Ziemlich schnell ergab es sich, dass ich schon 1991 zur KSZE-Folgekonferenz nach Moskau geschickt wurde, um für die IGFM ein Informations- und Beschwerdebüro zu führen.

Und hier begegnete ich Valerij Senderow, einem hageren, bleichen Mann mit auffallend ausstehenden Augen, der sich fast lautlos bewegte, alles argwöhnisch betrachtete und kein Wort mit mir sprach. Viele solcher Gestalten kamen in unser Moskauer Büro, Schlange standen sie stundenlang, um mir ihre Leidengeschichte zu erzählen. Die einen behaupteten, der KGB hätte ihnen einen Sender in den Zahn eingebaut, die anderen, dass sie von oben aus den Wolken vom selbigen verfolgt würden… Gut, dass ich einen Muttersprachler zur Seite hatte, alleine hätte ich mich kaum zurechtfinden können. Aber dass der offizielle Leiter der IGFM Moskau auch so wie diese „Gestörten“ auftrat, wunderte mich, und irgendwie nahm ich das abwertend zur Kenntnis.
Ich berichtete damals dem heutigen langjährigen Geschäftsführer der IGFM, Herrn Hafen, über meinen Eindruck von Herrn Senderow und dieser erzählte mir, dass Herr Senderow viele Jahre in Gefangenschaft gelebt und dort vieles mitgemacht habe und dass das einen Menschen schon zermürben könne. Auch das prallte damals an mir ab, ich machte mir keine weiteren Gedanken darüber.

Tiefe Scham
Erst vor einigen Jahren, als ich wieder einmal versuchte, Einblick in unser riesiges Archiv unserer Arbeit für die Entrechteten in der Sowjetunion zu nehmen, stieß ich auf das Foto eines Mannes, das mich sehr beeindruckte. Ein gutaussehender Mann, er wirkte sehr entschlossen und hatte so ausdrucksvolle Augen. Ich starrte auf das Foto, starrte auf die Augen, blätterte mit zittrigen Händen um, suchte nach dem dazugehörigen Namen, denn die Augen kamen mir irgendwie bekannt vor und ja,- es war Valerij Senderow. Vor seiner Inhaftierung, ein junger Revolutionär, der sich für eine freie Gewerkschaft in der Sowjetunion einsetzte. Jetzt erstmals, 25 Jahre später, überfiel mich tiefe Scham.

Valerij Senderow einige Jahre vor seiner Verhaftung

Die Fallkate Senderow

Die Fallakte Senderow
Und heute, weitere 5 Jahre später, als wir seine Todesnachricht erhielten, war mir klar, dass es meine Pflicht war, allen IGFMlern mehr über ihn zu berichten, als man es in einer Todesanzeige tun kann. Und so nahm ich mir unsere fast hundertseitige Fallakte Valerij Senderow vor. Und jede Seite, die ich las, bestätigte mir mein Ansinnen.
Das Frontblatt unserer Fallakten sehen Sie hier in voller Größe: So wurden damals die Schicksale der politischen Gefangenen bei uns festgehalten. In unserem Archiv befinden sich unzählige solcher Schicksalsberichte, nicht alle allerdings sind so gut dokumentiert wie das des Valerij Senderow.

Junger Intellektueller
Valerij Senderow war schon in jungen Jahren ein hoch geistiger Mensch. Er studierte Mathematik, wurde Dozent an der Universität, veröffentlichte viele anerkannte mathematische Arbeiten. Auch die Philosophie beschäftigte ihn, darunter insbesondere die Existentialisten; er liebte das absurde Drama, liebte Gedichte. Gleichzeitig war er ein tief gläubiger Mensch, und die Bibel war für ihn das wichtigste aller Bücher. Er war ein sehr mitfühlender Mensch, ein Samariter, der sich schon im Kleinen immer ohne Umschweife für andere eingesetzt hat.

Schon mit 22 Jahren wurde er vom KGB verhaftet, man beschuldigte ihn der Anführer eines philosophischen Zirkels zu sein, in dem er Vorträge über Kulturmorphologie gehalten hatte. Ein Jahr später entließ man ihn deswegen aus der Universität und zwei Jahre später aus dem wissenschaftlichen Institut. Er wurde degradiert, bis es für den außergewöhnlichen Mathematiker nur noch eine Stelle als Hauswächter gab.
Obwohl unter steter Beobachtung des KGB, wurde Senderow dennoch führendes Mitglied der freien und natürlich verbotenen Gewerkschaft SMOT, beschäftigte sich weiter mit der Mathematik, schrieb weiterhin mathematische und  sozialpolitische Analysen. Ständig seine Inhaftierung im Kreuz. Wie konnte er das tragen?

 „…es gibt Zeiten, an den der Platz eines ehrlichen Menschen das Gefängnis ist“.
Seine letztliche Inhaftierung erfolgte erst zehn Jahre später, Senderow war mittlerweile 38 Jahre alt.
Hier sein offizieller „Standpunkt“ kurz vor seiner Inhaftierung:

Mein Standpunkt
Im Jahre 1917 haben in Rußland die Bolschewiken die Macht übernommen. 65 Jahre kommunistischer Herrschaft kennzeichnen sich durch Vernichtung von Glauben und Kultur, die Ausrottung des russischen Volkes und den Völkermord an „kleineren“ Nationen durch Aggressionskriege, Konzentrationslager und psychiatrische Tötungseinrichtungen.
Dies alles habe ich klar erkannt. Dennoch habe ich nie versucht, das Land zu verlassen: ich wollte nicht meine Heimat der Willkür der Eindringlinge überlassen.
Aber ich fühle mich durch nichts an diese Gewalt gebunden. Ich bin weder zu ihren „Wahlen“ gegangen, noch habe ich ihre Versammlungen besucht.
Und noch weniger beabsichtige ich bei einem politischen Prozess mitzuwirken.
Eine „strafrechtliche“ Untersuchung, die sich mit Literatur und in diesem Zusammenhang mit irgendwelchen Kontaktpersonen befasst, ist eine Vergewaltigung des Geistes und eine Verhöhnung des Freiheitsbegriffes. Daran will ich mich nicht beteiligen.
Mein Wirken hat nie den Vereinbarungen über Menschenrechte oder den Gesetzen zivilisierter Menschen widersprochen. Aber ich habe mich nie darum gekümmert, ob meine Handlungsweise einer von der Partei diktierten Verfassung und einer auf Terror aufgebauten Strafgesetzgebung entspricht. Und ob mir nun eine perfekte „Fälschung“ untergeschoben wird, oder ob es mir tatsächlich gelingt, die Verlogenheit der Strafparagraphen zu enthüllen, das ist völlig unwesentlich.
Nicht nur für mich persönlich, auch für das Ermittlungsverfahren ist es unwesentlich. Denn seine Aufgabe ist ja nicht zu ermitteln, sondern zu strafen.
Sollen sie strafen. Ich bin nicht der Erste und ich werde auch nicht der Letzte sein.
Aber das Ende ist nahe. W. Senderow

17 Jahre für „antisowjetische Agitation und Propaganda“, 17 Jahre dafür, dass er frei gedacht hatte.
Und so fand Senderows Gerichtsverfahren auch ohne jegliche Verteidigung statt, und so wurde er auch gestraft: Er erhielt 7 Jahre Straflager und weitere 5 Jahre Verbannung, die innerhalb seine Haftzeit noch einmal um weitere 5 Jahre verlängert wurden.

360 Tage Isolationshaft bis zum nahen Tod
Auch in seiner Haft blieb Senderow sich treu, bis an die Grenzen seines Leib und Lebens. Als Bestrafung dafür, dass er jeden Tag nach Herausgabe der von ihm konfiszierten Bibel fragte, wurde er im April 1985 im Zuchthaus Tschistipol in den Strafisolator gesteckt, einer winzigen Zelle ohne Bett, jeden zweiten Tag eine warme Brühe. Nach 360 Tagen musste er hinausgetragen werden, konnte sich nicht mehr selbstständig bewegen.

Perestroika
Zu dieser Zeit, als Valerij Senderows Körper unter der Last der kommunistischen Diktatur zusammenbrach, brach auch außerhalb seiner Gemäuer langsam aber stetig dieses Konstrukt, das sich mit seiner ganzen Gewalt auf ihn gelegt hatte.

Seine Tortur sollte daher schon 13 Jahre vor seinem offiziellen Entlassungstermin enden, am 18.3.1987. Fünf Jahre nach seiner Inhaftierung kam Valerij Senderow dank der Gorbatschow Politik der Perestroika frei. Sein erster Anruf galt der IGFM, und er erklärte, dass er auch jetzt sein Land nicht verlassen will, er wolle weiter arbeiten, sich für die Anderen einsetzen. Und das tat er bis an sein Lebensende. Auch seiner Mathematik und der Philosophie blieb er bis zum Schluss treu. Er brauchte einige Jahre, um körperlich wieder zu genesen, fand eine Frau und konnte mit ihr noch das Glück einer Familie genießen.

Menschenrechtler mit Leib und Seele
Hier seine offiziellen Worte kurz nach seiner Entlassung, die, und das spürt man, keine leere Worthülsen sind, sondern die Worte eines politischen Gefangenen, eines Freiheitskämpfers, eines Bürgerrechtlers, eines Menschenrechtlers „durch und durch“:

An alle Menschen des Glaubens und des Geistes; an alle, die für unsere Freiheit gekämpft haben und noch kämpfen
„Ich verneige mich zutiefst vor allen, die die Jahre über für uns gebetet haben, die in der alltäglichen Hetzte dieser pragmatischen Welt an unsere Freiheit gedacht, dafür gekämpft und sie durchgesetzt haben. Die Freilassung eines Teils der Gefangenen in der UdSSR ist zweifellos ein großer Sieg…
Vergessen Sie uns nicht. Vergessen Sie die politischen Gefangenen unseres Landes nicht, die nach wie vor hinter den Betonmauern der Konzentrationslager und den mörderischen psychiatrischen Zerstörungsanstalten gequält werden.
Ihre Zahl ist weitaus größer als diejenigen, die dank Ihres aufopferungsvollen Kampfes die Freiheit errungen haben…
Die Freiheit in der Welt ist unteilbar; wir haben nur sie und das unermüdliche wirksame Empfinden dieser Einheit ist ein sicheres Pfand des wahren und würdigen Menschen, des Friedens auf der Erde. Setzen wir unsere Anstrengungen und unseren Kampf fort!
Walerij Senderow 31. März 1987

Verehrter Herr Senderow, möge Ihre wunderbare Seele in Frieden ruhen!

Dr. phil. Carmen Krusch-Grün
IGFM, Eurasia Komitee