Beitragsbild by The Presidential Office of Ukraine, https://www.president.gov.ua/
Der neue Präsident der ukrainischen Riesin, der „Komiker“ Wolodymyr Selenskyj, ein Mann zum Grinsen?
Mit der Kraft des absurden Humors und freien Wahlen – hin zu einer realen Chance zur Beendigung des Kriegswahnsinns.
Dr. C. Krusch-Grün, Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, Frankfurt a.M., 28.07.2019
Als Osteuropaexpertin der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, hat mir die Ukraine in den letzten Jahren besonders schwer zugesetzt.
Der Krieg in der Ostukraine, der nun in sechste Jahr geht, der schon 13 000 Menschenleben gefordert hat, eine doppelt so hohe Anzahl Verwundeter und über 1,5 Millionen Europäer in die Flucht getrieben, ein Krieg, der Zerstörung, Traumata und Kriegsgräuel mit sich gebracht hat, inmitten Europas und ignoriert von Europa.
Für mich die größte humanitäre europäische Katastrophe des jungen 21 Jahrhunderts.
„Wir sind nichts weiter als Aussätzige. Wir werden von den Menschen auf der anderen Seite geächtet und keiner weiß von der Hölle, durch die wir gehen“, so ein gebrechlicher Rentner aus Donezk.
Immer wieder machte und mache ich mir Gedanken um diese vielen Millionen leidtragenden Menschen im Kriegsgebiet.¹ Mache mir Vorwürfe, hätte doch irgendwie dazu beitragen müssen, dass es so weit nicht kommt.
Maidan Dez 2013 by IGFM, Krusch-Grün
Die ganze Debatte um die Entwicklung der Ukraine war irgendwann nur noch in zwei Lager gespalten: Prorussisch versus proeuropäisch.
Prorussisch diffamierte die ukrainische Entwicklung als eine Wiedergeburt der ukrainischen Nationalbewegung, die im Zweiten Weltkrieg mit den Faschisten kollaboriert hätten und deren Freiheitskämpfer heute in der Ukraine an allen Ecken und Enden auf Hochglanz poliert würden.
Proeuropäisch diffamierte die russische Entwicklung als postzaristische, poststalinistische und putinsche imperiale Unterdrückung der Ukraine, die wieder im Begriff sei, die Ukraine zu besetzen.
Für beide Positionen gab es „Futter“ in Hülle und Fülle. (Wer sich historisch mit dem Zustandekommen dieser beiden entgegensetzten Positionen vertraut machen möchte, dem sei mein ausführlicher historischer Ausflug in zwei entgegengesetzte Landeszipfel der Ukraine, nach Lwiw und Donezk eine Hilfe²).
Um aber das größte Land innerhalb Europas im 21 Jhd zu Demokratie und Wohlstand zu bringen, benötigt es mehr als zwei polarisierte Sichtweisen, die sich aus der weiten Vergangenheit rekrutieren, mehr als die Guten und die Bösen, mehr als die nationale und internationale Aufspaltung in zwei Lager.
Und diesen Gordischen Knoten haben die Ukrainer jetzt selbst durchschnitten und das noch mit viel eigenem Humor des Absurden. Chapeau!
Sie haben sowohl mit der niedrigsten Wahlbeteiligung als auch mit der absoluten Mehrheit für Selenskyj gezeigt, dass sie keine Extremisten sind, weder rechts noch links!
Wieso das und wer ist Selenskyj überhaupt?
Foto by The Presidential Office of Ukraine, https://www.president.gov.ua/
Seit 2015 lief im ukrainischen Fernsehen die politsatirische Serie „Diener des Volkes“, mit den höchsten Einschaltquoten bei jung bis alt. Selenskyj spielt in der Hauptrolle einen einfachen Geschichtslehrer, dessen Schüler ihn zufällig dabei filmt wie er bei einem Kollegen Luft ablässt und über die politischen Verhältnisse in der Ukraine wettert. Der Schüler lädt die Aufnahme auf youtube hoch und sie erhält eine millionenfache Resonanz. Damit beginnt der Weg des unbeholfenen, ehrlichen Mannes aus dem Volk bis hin zum Amt des Präsidenten, gespickt mit typischen kleinen und großen Problemen des ukrainischen Lebens, insbesondere der Oligarchenherrschaft und Korruption, die hier auf die Schippe genommen werden. Meine moldauische Kollegin hat Tränen gelacht und gesagt, sie hätte ihn auch gewählt.
Beispielsweise eine klitzekleine Episode aus der Serie, Selenskyj (in der Rolle des Wassyl Holoborodko) versucht eine Rede in ukrainischer Sprache zu halten, stammelt herum und sagt dann „Ach was solls, ich bleibe ich, ich werde Russisch sprechen“. Natürlich hat er sich dafür viel Kritik der Nationalisten eingeholt, allerdings ist diese Situation ein reales Alltagsproblem von Abermillionen Ukrainern mit russischer Muttersprache. Und der heutige reale Präsident Selenskyj, sieht den Weg zur Ukrainschen Sprache auch nicht in strengen Verboten des Russischen, sondern in Belohnung des Ukrainisch Lernens. Für uns als Menschenrechtler zweifelsfrei der bessere Ansatz.
Selenskyj ist zudem mehr als „nur“ ein Komiker, er ist Politik-Satiriker und er hat ein „anständiges“ Jura Studium absolviert. Er ist der Sohn einer jüdisch russischsprachigen Akademikerfamilie, geboren in einer Eisenerzstadt im Gebiet Dniprpetrowsk ca. 300 östlich von Donezk, das heute hinter der Kriegsfrontlinie liegt. Er steht für die Beendigung des Krieges, für Kommunikation mit Russland, für die Bekämpfung des Machtmissbrauchs von Oligarchen und grassierender Korruption sowie den Weg nach Europa. Er ist 41 Jahre jung und er weiß, warum und wofür er gewählt wurde und dass er jetzt zeitnah abliefern muss.
Ein großes, überaus berechtigtes Fragezeichen steht allerdings noch hinter seiner Bindung zu dem ukrainischen milliardenschweren Oligarchen Ihor Kolomoyskyj, in dessen Fernsehkanal die Erfolgsserie ausgestrahlt wurde. Kolomoyskyj, ein führender Oligarch, der in vielen großen Geschäftssektoren maßgeblich mitmischt, der im Krieg gegen den Osten seine eigene Privatarmee aufgebaut und nach Wild West Manier, 10 000 Dollar Lösegeld ausgesetzt hatte für jeden gefangenen pro-russischen Separatisten.
Auf die direkte Frage eines Journalisten in einem ausführlichen Exklusiv Interview, ob er eine Schachfigur Kolomoyskyjs sei, antwortet Selenskyj im Dezember letztes Jahres: „Ich bin eine absolut unabhängige Person. Ich möchte niemanden beleidigen, aber derjenige, der mich steuern wird, ist noch nicht geboren. Es gibt nur zwei Halbstarke, die mich steuern können und das sind meine Kinder…“³
Aber um auf meine Eingangsfrage zurückzukommen, ist Selenskyj ein Mann zum Grinsen? Sprich, dürfen wir uns endlich einmal über einen guten ukrainischen Präsidenten nach all denjenigen freuen, die die ukrainische Riesin nicht auf die Beine gestellt haben? Wird Selenskyj dieses Schwergewicht heben können?
Nun, das ist eine Frage, deren Antwort sich bald herausstellen wird.
Es ist eine ganz andere Sache, die mich zum Grinsen bewegt. Immer wieder hatte ich mir Sorgen gemacht, um den ultranationalistischen Rechtsdrall in der Ukraine und darum, dass die Menschen sich immer wieder beherrschen lassen von Oligarchen, die dem Land das Geld ausgesogen haben.
Vor zwei Jahren hatte mir mein bekannter Musiker-Freund aus Odessa auf diese Fragen folgende Antworten gegeben:
Zu Ersterem, dass die rechts-nationalistischen Parteien, nachdem man sie während des Maidan als „Frontkämpfer“ genutzt hätte, sich sozusagen am Rand aufgelöst hätten. Und Letzterem, dass wenn Poroschenko kein guter Präsident sei, er sich in der Ukraine nicht so festsetzen, sich keinen güldenen unantastbaren Erbthron wie Putin in Russland aufbauen könne. Er werde schnell verschwinden und der nächste werde kommen. Und wenn dieser nichts tauge, wieder der Nächste, bis dann ein guter Präsident käme. Wichtig sei, dass die Schneise nach Europa geöffnet sei, alles andere ergebe sich automatisch. Wichtig sei, dass die Richtung jetzt stimme, vieles schon auf den Weg gebracht sei.⁴
Und ja,- das haben die Präsidentschaftswahlen und aktuellen Parlamentswahlen ganz klar bewiesen.

Kiew 2018, IGFM, Krusch-Grün
Vermutlich gar zur Überraschung der eigenen Bevölkerung, sowohl der Hälfte, die zur Wahl ging, als auch der Anderen, die zu Hause blieb. Und der ca. 13% hinter den Frontlinien, die von der Wahl ausgeschlossen waren. Über 73% für Selenskyj in der Präsidentenstichwahl im April und über 43 Prozent bei den Parlamentswahlen jetzt im Juli. Da kann und darf von einem weit verbreiteten faschistischen Ultranationalismus keine Rede mehr sein!
Hinzu über 13% für die wieder zugelassene russlandfreundliche Partei „Oppositions-plattform – Für das Leben“ sowie je über 8% für die nationalistischeren Parteien Timoschenkos und Poroschenkos. Und als Schlusslicht noch die Partei eines bekannten Rockmusikers, der es noch über die 5 % Hürde geschafft hatte.
Die Kraft von funktionierenden freien Wahlen, und die überwältigende Mehrheit für einen gewitzten ukrainischen Polit-Satiriker, der sich in der politischen Mitte und in Richtung Europa bewegt, -das ist es, was mir am Wahlabend des 21. Juli ein breites Grinsen ins Gesicht ruft. Und eine ukrainische Bevölkerung, die zumindest einen Gordischen Knoten mit einer gehörigen Portion an absurdem Humor selbst durchbrochen hat und uns damit nicht zuletzt zeigt, dass sie selbst schon längst überreif ist für Europa! Bleibt zu hoffen, dass es die neue politische Führungsriege ihnen nachtut. Wenn nicht – dann kommt, wie wir ja jetzt wissen, – die Nächste.
Und das Wichtigtse von allem, endlich eine reale Chance zur Beendigung dieses Kriegswahnsinns!
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1- Krusch-Grün, Carmen, Ukraine, Das Ursprungsland der schönsten Melodien pfeift nur noch aus dem letzten Loch, Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, August 2018, unter:
https://humanrights-online.org/de/ukraine-das-ursprungsland-der-schoensten-melodien-pfeift-nur-noch-aus-dem-letzten-loch/ (DE/RU/EN)
-Krusch-Grün, Carmen, In Odessa ist alles möglich, Sommer 2017, Eine Reflexion über die jüngste Geschichte in (der) Ukraine, unter:
https://humanrights-online.org/de/in-odessa-ist-alles-moeglich/ (DE/RU/EN)
-Brennpunkt Ukraine, Was sagen die Nachbarn dazu? 10 Sektionen der IGFM aus der ehemaligen Sowjetunion nehmen Stellung, Hrsg. IGFM, Frankfurt, Mai 2014
-Krusch-Grün, Carmen, Menschenrechte in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Hrsg.: IGFM Frankfurt, unter: https://humanrights-online.org/de/igfm-dokumentation-menschenrechte-in-den-laendern-der-ehemaligen-sowjetunion/ (DE/EN)
2-Krusch-Grün, Carmen, Die historische Entwicklung von zwei gegensätzlichen Erzählsträngen in (der) Ukraine am Beispiel von Galizien und Donbass, IGFM, Frankfurt, 2019
3-Wolodymyr Selensky in Exklusiv Interview mit Dimitij Gordon, in Internet-Journal Gordonua „Wenn ich zum Präsidenten gewählt werde, werden sie mich zuerst mit Dreck beschmeißen, dann achten und danach weinen, wenn ich gehe.“, 26.12.2018, https://gordonua.com/publications/zelenskiy-esli-menya-vyberut-prezidentom-snachala-budut-oblivat-gryazyu-zatem-uvazhat-a-potom-plakat-kogda-uydu-609294.html
4-Vgl.: Krusch-Grün, Carmen, Ukraine, Das Ursprungsland der schönsten Melodien pfeift nur noch aus dem letzten Loch, Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, August 2018, unter:
https://humanrights-online.org/de/ukraine-das-ursprungsland-der-schoensten-melodien-pfeift-nur-noch-aus-dem-letzten-loch/ (DE/RU/EN)
-Krusch-Grün, Carmen, In Odessa ist alles möglich, Sommer 2017, Eine Reflexion über die jüngste Geschichte in (der) Ukraine, unter:
https://humanrights-online.org/de/in-odessa-ist-alles-moeglich/ (DE/RU/EN)
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