Die Buchbesprechung über das Buch von Viktor Martinowitsch „Paranoia“

Der 2010 im St. Peterburger Verlag AST Moskau und Astrel‘ veröffentlichte Roman, in Weißrussland verboten, 2013 auf Englisch erschienen, mit einem Nachwort des renommierten Osteuropa-Historikers Timothy Snyder versehen, setzt mit einer Reihe von Perlustrationsprotokollen eines nicht näher bezeichneten Ministeriums für Staatssicherheit ein. Angefügt ist der Appendix 1, in dem die observierte Person, Anatoli Petrowitsch Newinski, Autor von fünf Erzähl- und Dramenbänden, geboren unweit einer Polarstation „jenseits des Polarkreises in einer Eisbären Familie“ beschuldigt wird, eine Untergrundzeitung herausgegeben zu haben, die „damit den Zerfall der Sowjetunion“ bewirkte. Mit diesem wunderlich-grotesken Auftakt, in dem nicht nur der amtliche Duktus der Überwachungsbehörde veralbert wird, sondern die staatliche Behörde sich augenscheinlich selbst auf den Arm nimmt, wird der Leser in ein Milieu eingeführt, das ihm sicherlich vertraut sein sollte. Es ist der Underground-Roman, der nicht nur in ehemaligen und noch existierenden staatssozialistischen Diktaturen und gelenkten Demokratien eine lange Tradition feiert. Im Fall des vorliegenden Romans, von deren Lektüre der Autor abrät, weil er einen Strafbestand erfülle, bedient sich der Autor, 1977 in Belarus geboren, gegenwärtig als Politikwissenschaftler in Litauen lehrend, eines besonderen Ich-Erzählers. Im ersten Teil, der die Überschrift: Wir trägt, ist es ein junger Mann, ein Ich-Erzähler, der mit ständig wechselnder Identität (Ich, er, wir etc.) auf der Suche nach einem Mädchen namens Jelisaweta ist. Es ist ein Vögelchen, das immer wieder verschwindet, während der frisch  Verliebte, immer auf der Flucht vor irgendwelchen MSS-Agenten, so lange sucht, bis er sich sicher ist, dass seine geliebte Jelisaweta noch einen Geliebten hat. Es ist Nikolai Michailowitsch Murawjow, der Minister für Staatssicherheit (MSS), wie der Appendix 2, ein ausführlicher Lebenslauf des Politikers, bestätigt.

Der Teil 2 mit dem Titel: Sie setzt sich mit den Objekten der Begierde auseinander. Auf über 110 Seiten sind Observationsprotokolle ausgedruckt, in denen ein Liebespaar (Gogol und Füchsin) allerlei echte und simulierte Liebesspiele für die aufgegeilten Abhörer inszenieren. In dieses wechselhafte Spiel zwischen überwachten Personen und ihren Observierern wird auch der Leser einbezogen, da er diese Protokolle liest, die an den Minister für Staatssicherheit Murawjow weiter geleitet werden. Für diese aufopferungsvolle Abhör-Arbeit erhalten die drei beteiligten MSS-Angehörigen, wie der Leiter der Zentralstelle für Akustische Dienste Oberst Sokolow in einem Empfehlungsschreiben mitteilt, nach Abschluss der erfolgreichen Observation hohe Auszeichnungen.

Im dritten Teil, der die Überschrift Ich trägt, ist Gogol, der enttarnte Liebhaber, wieder allein, denn das Vögelchen Jelisaweta ist augenscheinlich zu ihrem zweiten Liebhaber Murawjow zurückgeflogen. Freiwillig oder nicht, Gogol grämt sich auf jeden Fall. Und wieder begibt er sich auf die Suche nach Lisa, wie sie jetzt mit ihrem gekürzten Kosenamen heißt. Es ist freilich eine Jagd durch den Kopf von Anatoli, wie der Ich-Erzähler sich jetzt wieder nennt. Wild ausschweifende Visionen von Konzerten, in denen sich der Bösewicht Murawjow als virtuoser Pianist outet, wechseln mit verrückten Szenen in irgendwelchen Kaufhäusern. Es nützt nichts. Anatoli kann sich in der Realität nicht mehr zurechtfinden. Er bleibt allein zurück: „Lisa, Liebes, Lisa!“ seufzt der so Gequälte zum Schluss, „mit deiner Stimme, Lisa, übermittelt es mir, dass ich Vergebung finden werde, dort, woher Dein Licht kommt, denn Gott ist die Liebe, und ich liebe Dich…“.

Der abschließende Essay „Im dunkelsten Belarus“, aus der Feder von Timothy Snyder, aber holt den Leser in die Realität der weißrussischen Diktatur zurück: „Der Roman Paranoia … geht davon aus, dass man in einem Polizeistaat immer beobachtet wird. Echtes Alleinsein nährt Paranoia“, sagt der Osteuropa-Historiker. Und dieser Text, am 28. Oktober 2010 in der New York  Review of Books erschienen, ist als Einführungslektüre für den Leser unbedingt zu empfehlen. Ansonsten würde er sich in den mit vielen, oft mysteriösen Verweisen ausgestatteten Berichten und Geständnissen verirren. Erstaunlich ist, dass die staatliche Aufsichtsbehörde für Publikationswesen die Druckerlaubnis für diesen Roman überhaupt erteilte, doch zwei Tage nach der Veröffentlichung alle Exemplare aus den Buchläden entfernen ließ. Ein Irrtum der staatlichen Aufpasser oder eine Geste eines Staates, an dessen Spitze ein seit über zwanzig Jahren regierender Diktator steht, der seinem übermächtigen russischen Nachbarn zeigen möchte, dass da und dort Zugeständnisse möglich sind, da die Machtstrukturen stabil sind? Ein politischer Roman also, der lediglich die psychischen Mechanismen der Paranoia aufzeigt, ohne eine reale politische und mentale Sprengkraft zu entwickeln? Auf jeden Fall aber ein bedeutendes fiktionales Dokument, in dem die Archäologie eines Polizeistaates aufgezeigt wird, der sich mit seinen Überwachungsmechanismen selbst parodiert. Doch wen stört es, wenn die Paranoia sich in den Köpfen der Opfer bereits festgesetzt hat!

 

Prof. Dr. Wolfgang Schlott, Osteuropaexperte