Anahit Khachatryan ist 75 Jahre alt, sie wurde im Dorf Gandzasar in der Region Martakert in Berg-Karabach geboren.

Über 100.000 Heimatvertriebene haben seit der Offensive Aserbaidschans gegen Arzach im September 2023 die Grenze nach Armenien überquert. Neun Monate lang harrten sie zuvor ohne ausreichend Nahrung, Wasser und Strom in Karabach aus. Viele von ihnen wollten ihre Heimat nie verlassen, doch ihnen blieb keine andere Möglichkeit. Foto: Arman Harutyunyan.

In ihrem Haus, das am Rande eines Waldes liegt, lebte sie seit über 55 Jahren. Nach ihrer Ausbildung heiratete sie und arbeitete als Lehrerin in der Dorfschule. Sie hat vier Kinder, mehrere Enkel und Urenkel. Sie und ihre Familie haben bereits einige Schwierigkeiten überwunden: Den Angriff der 90er Jahre, den Krieg. Aber sie haben Widerstand geleistet und nie daran gedacht, ihren wunderbaren Geburtsort zu verlassen. Doch dieses Mal standen sie kurz vor der physischen Vernichtung.

„Wir haben die Hölle durchgemacht; es ist unmöglich, sie mit Geschichten zu beschreiben. Es gab neun Monate lang kein Essen, keinen Strom und keine Heizung, aber wir hofften, dass etwas passieren würde, dass sie uns beschützen würden.“ – Anyuta Azaryan

Am 19. September geriet Anahits Haus unter Beschuss. Die Kinder – das jüngste war noch nicht ein Jahr alt – wurden in eine Höhle in der Nähe des Waldes gebracht. Sie hatten Angst, dass die Stimme des Kindes gehört würde. „Wir wissen sehr gut, wie sie mit Armeniern umgehen. Sie schlachten sie ab, ohne auf Alter und Geschlecht zu achten. Sie vergewaltigen und verstümmeln sogar kleine Mädchen, es gibt viele solcher Fälle.“

Am nächsten Tag, als die Intensität des Feuers nachließ, sagten die Dorfbewohner, dass die Aserbaidschaner in das Dorf eingedrungen seien, das von Männern, darunter auch Anahits beide Söhne, beschützt worden sei. Es gab keine Zeit, eine geordnete Evakuierung zu organisieren. Immerhin hat Anahit ihre Dokumente schnell beisammen; seit sie während des Krieges 2020 bereits einmal fliehen musste, bewahrt Anahit sie immer an einem Ort auf.

„Sie erzählen von der Evakuierung und dass sie bis zu diesem Tag nicht an einen solchen Ausgang geglaubt hätten. Sie hörten, dass sich die Latschin-Brücke öffnete, sie freuten sich, doch es folgte blitzschnell der Angriff der Aserbaidschaner.“ – Ilona Hovsepyan

Anahit Khachatryan flüchtete mit acht Personen in ihrem Auto nach Stepanakert. Zwei Tage später, als klar war, dass der Feind in Stepanakert einmarschierte, boten die Friedenstruppen an, sie zum Flughafen zu bringen, wo sie zwei Tage hungrig und leidend auf dem Hof ​​verbrachten. Die russischen Friedenstruppen ließen sie nicht in das Flughafengelände. Sie standen draußen, hungrig und frierend. „Es war Golgatha, durch das wir gingen. Wir haben neun Monate lang Hunger, Kälte und Dunkelheit ertragen, aber wir wollten unser Paradies Artsakh nicht verlassen. Doch unter der Androhung von Vernichtung und Demütigung wurden wir aus unseren Häusern vertrieben und unsere Geschichte wurde uns genommen“, sagt Anahit.

Eine Gruppe heimatvertriebener Karabach-Armenier in Goris. Foto: Arman Harutyunyan

Am Lachin-Kontrollpunkt hatten sie große Angst, dass die Jungen nicht freigelassen würden, da viele von ihnen festgenommen wurden. Doch nach einiger Zeit durften auch die Jungen gehen. Außer ihrer Dokumente konnten sie nichts mitnehmen.

„Dieser Weg war ein Weg der Stille und des Schmerzes, wo sich jeder ohne Worte verstand, wo es auf seine Weise sehr ähnliche und tragische Schicksale gibt.“ – Sona Sargsyan

Als sie endlich in Armenien ankamen, war der Empfang sehr herzlich. „Vom ersten Moment an hatten wir Seelenfrieden. Wir hatten entfernte Verwandte in Eriwan, die uns dort für einen Monat ein Haus gemietet haben. Hier leben wir acht auch jetzt noch. Wir müssen nun darüber nachdenken, was wir tun und wie wir in Zukunft weiterleben sollen. Wir sind dankbar für jede Unterstützung. Ich danke Gott, dass meine Kinder am Leben sind.“

„Ich gehe immer in Supermärkte und sage: Hier ist es voll. Nichts ist in Karabach angekommen.“ – Merine Harutyunyan

 An ihre Heimat erinnert sich Anahit mit großer Wehmut. Sie hat Tränen in den Augen, wenn sie an ihre Hunde denkt, die sie zurücklassen musste, oder an den Klosterkomplex Gandzasar – ein Bauwerk aus dem 13. Jahrhundert mit armenischen Inschriften und Wandmalereien, das auf der UNESCO-Liste steht. Über viele der ehemaligen Bewohner aus Anahaits Dorf gibt es keine Informationen, viele Menschen gelten als vermisst.

 „Wir verpacken unsere Erinnerungen, versuchen die Düfte, Schattierungen und Bilder zu bewahren, damit sie uns später in der Ferne wärmen, aber in der Ferne verursacht das alles nur Schmerz. In der Ferne nimmt die Dosis des Bewusstseins jeden Tag tropfenweise zu, und die Unsicherheit weicht der Leere.“ – Sona Sargsyan

 

Karabach-Armenier nach ihrer Flucht nach Armenien in Goris. Foto: Arman Harutyunyan

Über 100.000 Heimatvertriebene haben seit der Offensive Aserbaidschans gegen Arzach im September 2023 die Grenze nach Armenien überquert. Im ganzen Land wurden Hilfseinrichtungen installiert, um grundlegende Bedürfnisse, wie Lebensmittelversorgung und Unterkunft, für die aus Arzach vertriebenen Menschen zu organisieren. Doch die Situation im Land ist angespannt. Denn auch wenn die Aufnahmebereitschaft groß ist, so übersteigt der Hilfsbedarf die Kapazitäten des kleinen Landes. Zudem sorgen ungelöste Herausforderungen, die durch den 44-Tage-Krieg in 2020 entstanden sind, noch immer dafür, dass Teile der Bevölkerung unter schwierigen sozialen Bedingungen leben. Die erneute, große Flüchtlingswelle verschärft die Situation.

Die IGFM-Sektion Armenien hat als Antwort darauf einen Plan entwickelt, um den heimatvertriebenen Menschen aus Arzach zu helfen. Dieser beinhaltet sowohl die kurzfristige Erstversorgung als auch langfristige Unterstützungsprogramme. Konkret geht es dabei zum einen um die kurzfristige Versorgung von zehn Familien mit Lebensmitteln, Kleidung und weiteren alltäglichen Bedarfsgegenständen und zum anderen, auf längere Sicht, den Aufbau eines Hilfscenters für Rechtsfragen. Dort sollen die Vertriebenen bei der Beantragung von staatlichen Hilfen unterstützt werden. Außerdem sollen sie dort die Möglichkeit haben, Rechtsbeistand für nationale und internationale Gerichtsverfahren zu bekommen. Dies ist auch vor dem Hintergrund der hohen Anzahl an vermissten Menschen wichtig. Familien haben zu einem großen Teil keinerlei Informationen über ihre vermissten Angehörigen.

Der Vorstand der IGFM hat sofort nach Beginn der Flucht der Armenier aus Berg-Karabach am 23. September 2023 der Sektion in Armenien finanzielle Mittel bereitgestellt, damit sie sofort bei Grenzübertritt ankommende Flüchtlinge befragen und Erste Hilfe leisten kann.

Die Sektionsleiterin der armenischen IGFM-Sektion Bela Shikarian beim Verteilen von Lebensmitteln und weiteren Hilfsgütern. Foto: IGFM. 

 

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